
Art déco-Plafond des Théâtre des Champs-Élysées, Paris
© Thomas Prochazka
Charles François Gounod:
» Roméo et Juliette «
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
Nach einer Serie im September 2024 folgt aktuell eine zweite mit drei Aufführungen. Gounods (grand) opéra en cinq actes
— so die Bezeichnung im Erstdruck der Partitur 1867 — ist nicht frei von Tücken: Wenn sich im vierten und fünften Akt das Drama auf das Liebespaar konzentriert, bedarf es ausgezeichneter Sänger. Und eines ebensolchen musikalischen Leiters. Andernfalls läuft, wie gestern, der Abend Gefahr, in Gleichförmigkeit unterzugehen.
Verantwortlich dafür zeichnete auch Haus-Debutant Marc Leroy-Calatayud am Pult des Staatsopernorchesters. Sichtlich bemüht um Einsätze (vor allem für den Graben). Recommandiert mögen ihn semi-szenische Aufführungen mit Benjamin Bernheim mit dem Orchestre de Chambre de Genève haben. Gestern allerdings wackelten die ersten Chöre mehr als bedenklich. Auch sonst schien mir Leroy-Calatayud zu nachgiebig, was Tempi und dynamische Abstufungen betraf; zu zurückhaltend das musikalische Funkeln und Glitzern auf dem Ball der Capulets. Zu ebenmäßig in den lyrischen Passagen — und immer am langsameren Ende, knapp vor dem Untergang im Meer der Larmoyanz. Einen Tick rascher hier, ein Quäntchen langsamer dort: Sie erschaffen am Theater Welten oder reißen sie ein. Zufriedenstellend der Chor des Hauses: Wenn man schmiß, schmissen alle. Dann szenenweise wieder: Überzeugendes.
III.
Stephanie Houtzel (Gertrude) sei für ihre Mitwirkung ebenso bedankt wie Hiroshi Amako (Tybalt); ich will’s dabei belassen. Ivo Stanchev, Le Duc des Abends, wird gewiß noch herausfinden, wann genau er denn aufzutreten habe, um den gewünschten Eindruck zu machen. Stimmlich empfahl er sich einmal mehr nicht für größere Aufgaben. Für diese fehlt es diesem Le Duc an der Ausformung einer Gesangslinie und dem ruhigen, doch gebieterischen Ton eines Herrschers.
Wolfgang Bankl gab einmal mehr einen verläßlichen Capulet. (Darf ich anmerken, daß ich ihn stimmlich schon in besserer Verfassung erlebt habe?) Der Mercutio des Stefan Astakhov mühte sich wieder hörbar mit der Ballade de la Reine Mab: keine Empfehlung für Größeres. Patricia Nolz als Stephano hörte sich für mich gegenüber dem Herbst verbessert an. Dennoch vertrügen Stimme wie Partie mehr gravitas. Sie überzeugte vor allem durch ihr Spiel. Der Frère Laurent liegt Peter Kellner immer noch zu tief. Dennoch gelang ihm diesmal eine bessere gesangliche Gestaltung, vor allem in der Szene mit Juliette.
Im Grunde — und alle diese Stimmen (mit Ausnahme der, sie mögen mir verzeihen, » verdienten Kräfte «) gaben davon hörbar Zeugnis — ist der Dreh- und Angelpunkt des Ganzen die Disposition eines Instrumentes; dessen gleichmäßige Entwicklung über den gesamten Stimmumfang, dem Aufstieg in die Höhe von einem gesicherten Fundament aus. Die Fähigkeit, Töne mit gleichbleibendem Stimmdruck zu Phrasen zu binden und diese wiederum zu verketten. Kurzum, es mangelt — und das gilt für Männer- wie Frauenstimmen aller Typen und Fächer — an jener alten Tugend der klassischen Gesangstechnik, welche heute kaum noch gelehrt zu werden scheint: der Ausbildung der Bruststimme. Diese ist — im Verlauf der Begebenheiten wird das alles klar werden — Voraussetzung für große (nicht: laute), tragende Stimmen.
IV.
Aida Garifullina, einst von Dominique Meyer protegiert, kehrte nach 2017 als Juliette wieder: keine gute Idee. Garifullinas Instrument war seinerzeit bereits zu wenig durchgebildet, um in dieser Partie reüssieren zu können. Nun, acht Jahre später, präsentierte sich die Stimme nicht nur als zu unbeweglich für die von Gounod geforderten Rouladen und Läufe, Garifullina mühte sich auch mit den Spitzentönen. Das war bereits beim Entrée Écoutez! C’est le son des instruments joyeux
nicht zu überhören und fand im Walzerlied Ah ! Je veux vivre
seine Bestätigung (von der großen Szene im vierten Akt ganz zu schweigen): Die Vorschlagsnoten waren kaum zu hören, die Läufe erklangen nicht a tempo, die Höhen wurden mit Kraft erklommen, anstatt sich in die Phrasen einzufügen. Kaum einmal machte die von Gounod geforderte Gesangslinie acte de présence. Die untere Oktave dieser Juliette verfügt nicht über die notwendige Kraft für die korrekte klangliche Balance, sodaß ihr keine Farben zur gesanglichen Gestaltung zur Verfügung stehen. Wieder einmal fand ich Conrad L. Osbornes Diktum bestätigt, wonach vorzeitiger Stimmverlust in der Höhe die Konsequenz mangelnder Tiefe ist.
Außerdem dürfte Garifullina die Partie der Juliette nur phonetisch beherrschen. Denn wie anders ist es zu erklären, daß sie z.B. im Finale nicht auf Roméos Worte Elle me regarde et se lève !
, also: Sie sieht mich an und erhebt sich!
, reagierte bzw. zu wissen schien, was dieser singen werde?
V.
Benjamin Bernheim sang zum ersten Mal den Roméo in Wien. Seine Stimme scheint nicht über zuviele Farben zu verfügen. Falls doch, enthielt er sie uns gestern vor. Außerdem fiel seine Zurückhaltung im Spiel auf. Oft, nicht nur in seiner großen Szene, schien er den Mann am Pult zu suchen, sang frontal ins Haus. Das stimmliche Kaliber dieses Roméo ist nicht allzu groß, doch intonierte er sauber und präzise. Sang auf Linie. Er hatte als einziger keine Probleme mit dem passaggio und dem geforderten Stimmumfang. Sein Instrument klang in keinem Augenblick forciert; doch öffnete es sich über dem passaggio nicht zur jener Helligkeit und jenem freien Klang, welche wir uns von einem ersten Roméo erwarten.
Dennoch, und ohne Zweifel: Es war der Abend Benjamin Bernheims. (Und Patrick Woodroffes.)