Vincenzo Bellini:
» La sonnambula «
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
Marco Arturo Marelli verlegte die Handlung in ein dem Mann’schen Zauberberg entlaufenes Sanatorium in schneebedeckter Berglandschaft. Das ist im Regisseurs-Theater so üblich. Werden darob die Handlung oder auf der Bühne Gezeigtes unglaubwürdig, so liegt, dies die übereinstimmende Meinung von Intendanten, Dramaturgen und Teilen der Presse, das einzig an einem überalterten und konservativen Publikum, welches, um den Fortbestand solchen Tuns zu sichern, unbedingt durch neues, jüngeres ersetzt werden muß. Das war auch schon vor mehr als 20 Jahren so.
Also tummeln sich Personal und Kurgäste auf einer Galerie, während zu ebener Erde eine Gesellschaft (im Original: die, wie wir annehmen dürfen, bäuerlichen Bewohner eines kleinen Bergdorfes) an einer U-förmigen Tafel die Verlobung von Amina und Elvino feiert. Marellis Versuch über La sonnambula wird spätestens im zweiten Bild unglaubwürdig, wenn die schlafwandelnde Amina nicht im Zimmer Rodolfos, des Sohnes des verstorbenen Grafen, sondern im Speisesaal des Sanatoriums (laut Libretto: ein Gasthof) gefunden wird.
Nach der Pause sehen wir in den Saal gewehte Schneewächten und offene Terrassentüren. Diese gedenkt einen Akt lang niemand zu schließen, während alle — zur Zeit von Marellis Konzeption gab es noch keine Energiekrise und man heizte die Bergluft, was die Kessel der Sanatorien hergaben — in Kleid und Anzug herumlaufen. (Amina ist nur mit einem Hemdchen bekleidet, aber sie schlafwandelt ja.) Für die zweite Strophe von Ah! non giungo uman pensiero
besteigt Amina in großer, roter Robe die Tafel, denn das tun am Zauberberg schließlich alle, wenn es ans Heiraten geht …
III.
Vinzenco Bellinis La sonnambula zeichnet sich eher nicht durch eine packende und mitreißende Handlung aus. Also mußten in der Hochblüte des bel canto (die Zeit von ca. 1810 bis etwa 1845) die Originalität der Komposition und die gesangliche Exekution dafür entschädigen. In der Uraufführung sangen Stars wie Giuditta Pasta und Giovanni Battista Rubini — mit den Gepflogenheiten jener Zeit. So war es üblich, daß der Tenor Töne und Phrasen über dem hohen Tenor-› a ‹ im Falsett und, die barocke Tradition fortführend, piano sang. Der » Duprez-Moment «, das erste mit Einsatz des Brustregisters gesungene hohe Tenor-› c ‹ in der italienischen Erstaufführung von Rossinis Guillaume Tell (italienisch: Guglielmo Tell), lag noch sechs Monate in der Zukunft. Conrad L. Osborne schrieb in seinem Buch Opera As Opera, daß Gilbert Duprez diese neue Art zu singen vermutlich nicht auf alle Spitzentöne anwandte. Osborne vermutet, daß Duprez für besagtes hohe Tenor-› c ‹ wahrscheinlich seine voix sombrée
ins Spiel brachte — diese erfordert allerdings ein klares und sicheres stimmliches Fundament.
Ähnliches galt für die Spitzentöne der Amina. Bellini komponierte diese Partie für einen soprano sfogato, deren berühmteste Vertreterinnen neben » der « Pasta Isabelle Colbran, Maria Malibran, Giuseppina Strepponi, Emma Calvé und Pauline Viardot waren. Der für die Rolle der Amina notwendige Stimmumfang erstreckt sich vom tiefen Sopran-› c ‹ bis zum hohen Sopran-› d ‹ (laut Autograph) bzw. -› es ‹ (im bei Ricordi 1831 bis 1833 erschienenen Klavierauszug).
Unter einem soprano sfogato verstand man einen Alt, dessen Stimmumfang in der oberen Lage — auf Grund natürlicher Gegebenheiten oder trainiert — bis zum hohen › e ‹ oder › f ‹ reichte. Von einem soprano sfogato erwartete man ein dunkles Timbre sowie, abgesehen von der agilen Höhe, ein starkes und tragendes unteres Register. Im 20. und 21. Jahrhundert wurde bzw. wird diese Partie zumeist an Koloratursoprane oder lyrische Soprane vergeben. (Deren letzte überzeugende Vertreterin der Amina war wahrscheinlich Maria Callas.)
IV.
Womit wir zum Abend der Wiederaufnahme kommen.
Wo Bellini in der Partitur Alza il sipario
(Der Vorhang öffne sich
) notierte, passierte in Marellis Inszenierung — nichts. Dafür ertönten die Banda und der Chor wie von fern her und so metallisch im Klang, daß man annehmen mußte, der Ton wurde aus einem entfernten Saal übertragen, anstatt von der Seitenbühne zu kommen: — schöne neue Opernwelt.
Am Pult stand Giacomo Sagripanti, dessen Zugang zu Bellinis Partitur von einer mehr als nur noblen Zurückhaltung betreffend die musikalische Gestaltung geprägt war. Vieles klang oberflächlich, wie nebenher, und auch wenn die Tempi in früheren Zeiten langsamer genommen wurden, so bedürfte es doch einer inneren Spannung, agogischer und dynamischer Führung, soll der Hörer dieses in hohem Maße der Kunst des bel canto bedingenden Werkes nicht vor der Zeit überdrüssig werden. Kurzum: Sagripantis Wirken öffnete der Langeweile schon bald Tür und Tor, Orchesterprobe hin oder her. Und wer verantwortet eigentlich den Umstand, wenn Chor und Orchester des öfteren nicht beieinand’ waren, wie man in Wien sagt?
V.
Maria Nazarova agierte als Lisa schauspielerisch, als sei sie die Bardame in diesem Sanatorium und nicht, wie von Felice Romani im Libretto vorgesehen, die einstens von Elvino verschmähte (und darob auf Amina eifersüchtige) Wirtin des örtlichen Gasthofes. Leider hinterließ Nazarova auch stimmlich keinen allzu günstigen Eindruck, wiewohl Bellini die Lisa als vollwertige zweite Sopranpartie gestaltete. Bereits in der ersten, von Choreinsätzen unterbrochenen Szene Tutto e goia, tutto e festa
stieß diese Lisa bei den Aufstiegen in die hohe Lage und den Koloraturen an ihre gesanglichen Grenzen: Manches klang schrill, der eine oder andere Ton selbst für den Laien gepreßt und hörbar falsch. Die von Bellini vorgesehenen Linien wollten sich den ganzen Abend über nicht wirklich einstellen; nicht einmal in Lisas großer Szene De’ lieti auguri a voi son grata
im zweiten Akt. Unsaubere Koloraturen, unsichere Höhen und eine oftmals brechende Gesangslinie hinterließen den Eindruck einer überforderten Stimme.
VI.
Mir will scheinen, daß für den tenore di grazia von Javier Camarena die Partie des Elvino in post-Duprez-Zeiten zu hoch liegt. Ab dem passaggio aufwärts verengte sich Camarenas Stimme immer wieder, die Spitzentöne klangen abgesetzt und großteils gestemmt, fügten sich nicht in die sie vor- und nachbereitenden Akkorde bzw. Phrasen. Alte Quellen berichten, daß nur Rubini in der Lage gewesen sein soll, den Elvino der schwierigen Höhen wegen wie von Bellini komponiert zu singen. Das wirft die Frage auf, ob Camarena diesfalls nicht besser beraten gewesen wäre, den Elvino — ungewohnt für heutige Ohren, gewiß — gleich Rubini zu singen: in post-barocker Tradition mit bewußt falsettierten Höhen und der Unterstützung des Mannes am Pult. So entstand vor allem nach der Pause der Eindruck steter Überforderung und stentorartig servierter Phrasen, wo doch Bellini piano vorgeschrieben hatte (in Übereinstimmung mit der damals gebräuchlichen Manier, hoch liegende Phrasen zu falsettieren). Auch in Camarenas Fall haftete vor allem das Empfinden, der Tenor vermochte den Anforderungen seiner Partie nicht gerecht zu werden.
VII.
In der Vergangengheit scholten mich einige Leser ob meiner Berichte über Roberto Tagliavinis Stimme. Der Baß singe nasal, die Stimme sei farblos und gehe in den Orchesterwogen unter. Nun, als Rodolfo, Signore del villaggio, machte mir Tagliavini — wieder einmal, bin ich versucht hinzuzufügen — gesanglich den besten Eindruck. Seine Arie Vi ravviso, o luoghi ameni
wurde mit Ausdruck und Geschmack vorgetragen. Tagliavini wußte die Silben zu binden, auch wenn in einigen Phrasen ein pull & push hörbar blieb, also der Stimmdruck über eine Phrase nicht konstant blieb, wie es die Kunst des legato verlangt. Dennoch erwuchs aus diesem Rodolfo das gesangliche Zentrum des Abends. Einige, die für Camarena gekommen waren, gingen, Tagliavini als den besten Sänger des Abends preisend.
VIII.
Die Partie der Teresa war mit Szilvia Vörös rollendeckend besetzt. Vörös’ Stimme orientierte sich seit ihren Anfängen im Haus am Ring nach oben. Der Preis dafür ist eine ausgedünnte, nicht mehr wirklich tragfähige Tiefe. Vor allem im ersten Akt blieb sie blaß, konnte nur im zweiten stimmlich auf sich aufmerksam machen. Schade.
Und Amina? Brenda Rae, ein paar Tage vorher herbeigeeilt, bot eine in meinen Ohren enttäuschende Leistung. Mir schien, als verschlucke sie den Abend über ihre Stimme. Mit Ausnahme einiger im forte bzw. fortissimo absolvierter Spitzentöne klang alles verschattet und unfrei, als stünde in großen Lettern sottovoce über der gesamten Partie. (Das stimmt nicht einmal für die Schlafwandelszenen.) Raes Stimme schien verschleiert. Auch kraftlos — als wisse sie nicht genau, wohin sie die nächste Phrase führen solle. (Ein Grund dafür mochte das orientierungslose Dahinschlagen des Mannes am Pult gewesen sein.) Rae sang — insofern ist uns die bel canto-Ära näher als wir denken — nicht die von Bellini komponierte Fassung, sondern hielt sich (so dies bei einmaligem Hören zu erkennen möglich ist) an die mit zahlreichen fiorituri und Läufen versehene des im Hause Ricordi verlegten Klavierauszuges. Doch das vokale Feuerwerk, wie von großen Rollenvertreterinnen der Vergangenheit abgebrannt, stellte sich nicht ein. Selbst Ah! non giunge
, » der « Rausschmeißer am Ende des Abends, worin die prima donna noch einmal mit ihrem vokalen Können glänzen könnte, blieb seltsam distanziert und hinter den Erwartungen zurück.
IX.
So waren, nehmt nur alles in allem, die Begebenheiten.