Der Berliner Alexanderplatz; in der Bildmitte das Grand Hotel, ganz rechts die Tabakwarenfabrik von Loeser & Wolff <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Berlin_Alexanderplatz_1903.jpg">Wikimedia Commons</a>

Der Berliner Alexanderplatz; in der Bildmitte das Grand Hotel, ganz rechts die Tabakwarenfabrik von Loeser & Wolff

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Drei harmlose Unterhaltungen über die junge Sängerwelt (II)

Von Ludwig Hess

Unterhaltung (bei Professor A.)

Professor A. (in einem Notizbuch lesend):
Also neun junge Genies gilts zu beobachten. Herein!
Fräulein A. (hereintretend):
Hab’ die Ehre, Herr Professor!
Professor A.:
Anscheinend Wienerin, mein Fräulein; was ist Ihr Wunsch?
Fräulein A.:
Ich hob’ meine Gesangsstudien beendigt, möcht gern dem Herrn Professor etwas vorsingen, ob der Herr Professor meinen, daß es schon…
Professor A.:
Für die Öffentlichkeit langt.
Fräulein A.:
Für die Öffentlichkeit langen würde.
Professor A. (notierend):
Vor- und Zuname?
Fräulein A.:
Hier meine Karte, ich bitte.
Professor A. (notiert, dann):
Was haben Sie mir mitgebracht?
Fräulein A.:
Die »Foribondo-Arie« von Händel zunächst.
Professor A.:
Konzert-Altistin? Also bitte los! (Er begleitet. Sie singt. Alsdann)
Fräulein A.:
Ich bitte sehr um Verzeihung für das mißlungene f.
Professor A.:
Sie meinen das fis. G, f und fis werden Ihnen aber immer mißlingen, solange Sie diese Töne mit der Bruststimme ansetzen. Das ganze Organ sitzt viel zu tief im Rachenraum, hat gar keine nasale Tendenz, klingt so im Zimmer zwar ganz leidlich, im Konzertsaal von der 10. Zuhörerreihe ab überhaupt nicht mehr; also es fehlt noch am elementarsten, von öffentlichem Auftreten kann noch keine Rede sein.
Fräulein A.:
Mein Wiener Gesangsmeister —
Professor A. (schnell unterbrechend):
Halt! Halt! Ich will prinzipiell nicht wissen, wer Ihr Lehrer war. Ich frage nur dann nach dem Lehrer, wenn mir eine Ausbildung durchaus gefällt. Ein für allemal: Lesen Sie das an meiner Türe hängende Schild.
Fräulein A. (lesend):
»Die zur Stimmprüfung oder zum Vorsingen kommenden Damen und Herren werden dringend gebeten, den Namen ihrer früheren Lehrer, Lehrerinnen oder Gesangsschulen nicht zu nennen.« Warum, Herr Professor?
Professor A.:
Sehr einfach! Ich setze mich niemals dadurch dem Vorwurf der Inkollegialität aus. Ferner kann kein Mensch entscheiden, ob die Fehler Schuld des Lehrers oder des Schülers sind. — Haben Sie die Absicht, weiter zu studieren?
Fräulein A.:
Ja, wenn es der Herr Professor für angezeigt und nötig erachten?
Professor A.:
Unbedingt. Taxiere mindestens noch ein- bis eineinhalb Jahre. Und was sind Ihre Pläne mit Ihrem Talent?!
Fräulein A.:
Glauben Herr Professor, daß ich Talent habe, bitte? Die ersten Worte haben mich sehr entmutigt.
Professor A.:
Entmutigt? Wieso? Ich habe Ihnen nur gesagt, daß Ihre Stimme noch falsch postiert ist, und das ist ein ABC-Fehler. Hab’ ich im Übrigen gesagt: die Stimme ist unschön?
Fräulein A.:
Verzeihen, Herr Professor, bitte.
Professor A.:
Im Gegenteil: die Stimme ist sehr schön und groß, die Musikalität recht erfreulich, auch schien es mir, daß Sie das schwere Stück trotz seiner technischen Schwierigkeit mit Temperament anpackten. Singen Sie mir ein Lied vor.
Fräulein A.:
Vielleicht die »Gesänge des Harfners« von Schubert?
Professor A.:
Kind! Unmöglich! Sie sind doch kein Mann!
Fräulein A.:
Mein früherer Professor…
Professor A.:
Still! Ruhe! Ich will nicht wissen, ob Ihr hochgeehrter Herr Professor oder Sie solche Geschmacklosigkeiten begangen haben! Gestern wollte mir eine sogenannte wirkliche Künstlerin den »Tambour« und dann den »Musensohn« vorsingen!
Fräulein A. (muß lächeln).
 
Professor A.:
Ja, und da lachen Sie! Genau so gut können Sie die »Romerzählung« des Tannhäuser, genau so gut ich »Isoldes Liebestod« oder »Er, der Herrlichste von allen« singen! Das sind und bleiben menschlich wie künstlerisch Perversitäten!
Fräulein A.:
Kann nicht die Kunst die Person des Singenden ganz vergessen machen?
Professor A.:
Ja, Gott sei Dank, und glücklicherweise! Aber ist der Sänger eine Persönlichkeit, so wird er, der Mensch, der große und liebenswerte, nie hinter seinem Kunstwerk verschwinden. Ebenso wenig wie der wirkliche Komponist. Dies Ausschalten der Person überlassen Sie freundlichst den Komödianten! — Also ein anderes Lied!
Fräulein A.:
Mein Gott! Ich befürchte, ich hab’ bisher nur Männerlieder gesungen!
Professor A.:
Aber warum?
Fräulein A.:
Ich meine, es gibt so wenig schöne und dankbare Gesänge für weibliche Stimme.
Professor A.:
Mein Fräulein! Ich dediziere Ihnen diese Liste. Darin finden Sie vom 15. Jahrhundert bis zum 31. Dezember 1908 die Lieder für Sopran, Mezzo, Alt, Tenor, Bariton, Baß verzeichnet. Sehen Sie: sechs Seiten Lieder für Alt, und welche Meister aus jeder Zeit! Da fehlen natürlich noch für Ihr Repertoire zirka 100 Opernarien und zirka 560 Oratorienstücke…
Fräulein A.:
Mir schwindelt!
Professor A.:
Aber ich schwindle nicht. Zeigen Sie mal die Lieder her, die Sie da mitbrachten … na also, da haben wir ja gleich Gesänge für Frauenstimme: Brahms’ »Von ewiger Liebe«, die »Mainacht« und dann da … so, nehmen wir mal »Die Grenzen der Menschheit«. (Fräulein A. singt, der Professor begleitet).
Professor A. (nach längerer Pause):
Fräulein A. …, Ihr Gesang ist, abgesehen von den früher erwähnten und noch zu beseitigenden technischen Mängeln, recht erfreulich. Musikalisch famos! Aussprache korrekt und brav und alles mögliche andere Schöne! Aber die Hauptsache fehlt noch an Ihrem Vortrage, das eigene, Persönliche, das sogenannte Individuelle, kurz das, was eine Zuhörermenge stärker interessieren kann. Seien Sie aber darum nicht niedergeschlagen! Sie sind noch sehr jung und noch halb auf der Schulbank. Sie denken sich beim Vorsingen noch Ihren korrigierend eingreifenden Meister als unsichtbaren Zensor vor sich. Darüber müssen Sie hinauskommen. Zuerst erlernen, lernen und wieder arbeiten, daß man über der Sache steht, dann aber muß die Gewalt der Poesie und Komposition wieder so stark über Sie kommen, daß Sie sich »fraglos diesem Zauber hingeben«; das erzeugt das wirkliche große Gefühl. Ich würde Ihnen nicht diese lange Rede halten, wenn ich nicht ganz deutlich fühlte, daß Sie die zwei Vorbedingungen zum individuellen Vortrag besitzen, nämlich Intelligenz und Temperament. Heute ist der Vortrag noch unpersönlich, aber nicht langweilig. Viel später ist erst zu entscheiden, ob sich Ihre Art zur Kunst einer wirklichen Persönlichkeit auswachsen kann. Es gibt eine Spezies junger Menschenkinder, bei denen man das mit fast unbedingter Gewißheit schon in den ersten, schüchternen Gesangsstunden voraussagen kann; und dann wieder eine andere, wo man totsicher als gewissenhafter Mensch sagen muß: »Geh in ein Kloster«, aber um Gotteswillen nicht auf die Bühne oder das Konzertpodium. — Ihre Begabung, Fräulein, liegt in der Mitte. Entwickeln sich Ihre schönen Anlagen im Reifen zu persönlicher Kunst, so stelle ich Ihnen ein glänzendes Prognostikon, es kann aber auch — ich muß Ihnen das sagen, weil Sie meine Meinung hören wollten — umgekehrt kommen, und dann bleiben Sie beim begabten Durchschnitt. … Soweit ich Menschenkenner bin, glaube ich, daß Sie Ihr Schulsystem, in dem Sie befangen sind, überwinden und dann selber Jemand werden können.
Fräulein A.:
Ich danke sehr, Herr Professor, für die gütigen Worte.
Professor A. (sprachlos):
Gütig? Das hat mir noch niemand gesagt.
Fräulein A.:
Darf ich noch fragen, ob ich Aussicht haben würde, bei Herrn Professor als Schülerin aufgenommen zu werden?
Professor A.:
Wenn Sie sich für mindestens eineinhalb Jahre verpflichten und immer so gut die Wahrheit vertragen, wie heute, gern. Und ein eiserner Fleiß ist conditio sine qua non. Alles übrige überlegen Sie noch und kommen Sie in drei bis acht Tagen wieder. (Verabschiedung.)
Professor A. (notierend):
A. …, nette Person, schöner Kontra-Alt, verknödelt, Brustknax, Atem­gymnastik, Temperament, klug, Vortrag noch unentwickelt — Herein! (Das Zimmer­mädchen mit einer Karte, dann auf Professor A.’s Zustimmung Herrn B. hereinführend.)
Professor A. (nach der üblichen Vorstellung, und nachdem er Herrn B. das Schild an der Tür lesen ließ, notierend):
Herr H… В…, Konzertsänger aus Berlin, Tenor, Vertretung die Konzertdirektionen v, w, x, у und z in Berlin. — Sie kommen in welcher Absicht, Herr В.?
Herr В.:
Ich würde gern auch in diesem Städtchen einen oder mehrere Liederabende geben. Hätte gern Ihr Urteil über mein Programm und meinen Gesang überhaupt. Darf ich es Ihnen vorsingen?
Professor A.:
Welches Programm?
Herr В.:
Zuerst zwei Arien: »So ihr mich von ganzem Herzen liebet« aus’m »Elias« und »Hüll dich in Tand« aus’m »Bajazzo.« Dann von Schubert »Der Neugierige« und »Ungeduld«, als eventuelle Zugabe »Leise flehen meine Lieder«, dann von Brahms »Meine Liebe ist grün« und »Ständchen«, von Wolf »Weylas Gesang« und »Heimweh«, als Zugabe »Der Freund«, von Schumann »Aufträge« und »Du bist wie eine Blume«, von Franz »Die Haide ist braun«, von Jensen »Margret am Tore«, von Henschel «die »Morgenhymne«, von Hildach der »Lenz«, von Curschmann »An Rose«, Teska »Es glänzt im Abendsonnengolde«, das »Winterlied« von Koß, »Heimliche Aufforderung« von Strauß, dann die »Faust-Cavatine« von Gounod und die »Gralserzählung« aus »Lohengrin«, als Zugabe das »Preislied«.
Professor A. (droht umzusinken):
… Dies, Tristan, mir?! — Sind sie von Gott verlassen? Ein solches Konzert und Sie sind unmöglich!
Herr В.:
Illusion! Herr Professor! Es war mein erstes Konzert in Berlin, nur noch etwas länger…
Professor A.:
Was?!
Herr В.:
Durch einige Lieder von Kritikern. Der Erfolg war kolossal, ich hatte 71 Kritiken, davon 60 glänzende, 5 so mittlerer Jüte, und sechs aber ganz belanglose Käseblättchen haben mir verrissen. Nun kamen die Agenten, jeder versandte, vierzehntagweise, immer die besten Ausschnitte aus meinen Kritiken, ich habe jetzt neun Agenten, die für mich arbeiten, sogar schon fünf feste Engagements, drei zu 75 Mark, eins zu 150, eins zu 400 Mark; das hat ein scheinbar ganz kleiner Agent durchjedrückt. — Ich bin aber fünf neuen Agenten gegenüber verpflichtet, in allen großen Städten Liederabende auf eijenes Risiko zu machen. — Jefällt Ihnen das Programm wirklich nich?
Professor A. (mit furchtbarer Stimme):
Wären Sie nicht ein so beklagenswertes Opfer der Verhältnisse, ich würde Sie als einen Hochstapler schlimmster Sorte hinausschmeißen! — Nun setzen Sie sich hier her! Kein Wort! Keinen Mux! Und hören Sie an, was Sie noch retten kann. Still! Keine Silbe der Unterbrechung, oder es steht mir nicht dafür! (Ruhiger. Herr B. sitzt wie vom Donner gerührt.) Hören Sie, Herr B.! In ein anständiges Programm gehört Stil. Hier haben Sie ein Verzeichnis von 200 stilistisch geordneten Programmen für einen Konzert-Tenor. Sie finden darin vorklassische, klassische, romantische, moderne, internationale, Bach-, Haydn-, Mozart-, Beethoven-, Schubert-, Schumann-, Brahms-, Wolf-Abende, auch nach poetischen Ideen aufgebaute, scheinbar ganz bunte Programme, Seriöses bis zum lachend Humoristischen. Das studieren Sie! Dann passiert es Ihnen nie wieder, daß Sie einen solchen italienischen Salat aufzutischen wagen. Und die Opern- und Oratorienarien! Die gehören auch nicht in solche Liederabende. Wo sie hineinpassen, finden Sie auch in dieser Liste: Sehen Sie z. B. in diesem klassischen Abend stehen drei altitalienische Arien, zwei Händelsche, ein Gluck, dann folgt ein noch fast im Arienstil gehaltener Gesang Beethovens »An die Hoffnung«, dann der Liederkreis »An die ferne Geliebte«. Das hat Stil, Einheit, da ist jeder Moment künstlerisch interessant, und Sie können zeigen, was Sie können. Und in Ihrem sogenannten Programm sind ja fast nur zum Überdruß bekannte Stücke. Das ist auch ein arger Fehler. Und Ihr Publikum und Ihre Kritiker werden sich zu Tode langweilen, weil sie alle diese Lieder von den großen Meistern des Gesanges x-mal besser vortragen hörten. Nеbеп bekannteren Stücken verborgene Schätze aus früherer Zeit heben, und jederzeit mutig für schöne, moderne Kunst eintreten, ist heilige Künstlerpflicht. Die Agenten sind nicht allein dran Schuld, daß die Liederabende immer leute- und menschenleerer werden, auch die bodenlose Langeweile, künstlerische Mutlosigkeit und Überflüssigkeit dieser fast stets gleichartigen Programme. Nun kommt die Hauptfrage: Haben Sie überhaupt das Recht, einen Liederabend zu veranstalten? Sind Sie imstande, Sie und Ihr Klavierpartner, Sie beide allein durch die Größe der Persönlichkeit Ihr Auditorium ein bis zwei Stunden bannend zu fesseln? Die meisten, die so pflichtgemäß »Liederabende geben«, wissen nicht, daß sie eine Selbsthinrichtung begehen, wenn nur ein Moment Langeweile im Publikum eintritt. — Wollen Sie mir ein Lied vorsingen?
Herr В. (sich freudig erhebend nicht ohne Arroganz):
Mit dem größten Verjnüjen! (Er singt das »Heimweh« vor.)
Professor A.:
… Daß ich mich kurz fasse: Warum gehen Sie nicht als lyrischer Tenor zum Theater?
Herr B.:
Man sagte mir, die Chancen als Konzert-Tenor seien zur Zeit eminent.
Professor A.:
Für Sie scheinen sie mir ganz ausgeschlossen. Ihre Stimme hat nur mittlere Qualitäten, die Ausbildung ist bis zu einem gewissen Grade leidlich und ungefährlich, ich meine, Sie werden sich am Theater nicht verbrüllen. — Ihre Figur und Ihr Kopf sind ordentlich — legen Sie sich aufs Theater, wenn gesungen sein muß.
Herr B. (beleidigt.):
Darüber wollen wir uns in zwei Jahren wieder sprechen.
Professor A.:
Was bildet sich so ein Grünschnabel ein? — Sie sehen, ich meinte es gut mit Ihnen: hören Sie mein letztes Wort: versuchen Sie eines zu verlernen, wenns noch geht: aus Chancen- und Geschmacks-Gründen Sänger werden zu wollen. Die Sache verhält sich umgekehrt. Ein berufener Sänger braucht sich um seinen Gelderwerb nicht zu sorgen; die vielen Nicht-Berufenen werden aber von den schönen Resultaten der Anderen verblendet, wählen die Kunst als geschäftlichen Beruf und verspekulieren sich bös. Adieu.
Herr В.:
Was bin ich schuldig?
Professor A. (traurig.):
Nichts. Adieu!
(Herr B. wird verabschiedet.)
 
Professor A. (notierend.):
B… schauderhaftes Opfer der in Berlin zentralisierten Kunstmarkt-Zustände. Im übrigen Tenor. Das sagt alles.

Kammersänger Ludwig [Konrad] Hess (1877 – 1944) war Tenor, Dirigent, Komponist und Professor an der Akademie für Kirchen- und Schulmusik in Berlin. Dieser Beitrag von Ludwig Hess erschien in » ›Der Merker‹. Österreichische Zeitschrift für Musik und Theater«. Jahrgang I, Teil I, Oktober – Dezember 1909, Heft V, S. 181ff. Via HathiTrust Digital Library.

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