»Lucrèce Borgia«: Elsa Lepoivre (Lucrèce Borgia) und Éric Ruf (Alphonse d’Este) © Comédie-Française/Christophe Raynaud de Lage

»Lucrèce Borgia«: Elsa Lepoivre (Lucrèce Borgia) und Éric Ruf (Alphonse d’Este)

© Comédie-Française/Christophe Raynaud de Lage

Victor Hugo:
»Lucrèce Borgia«

Comédie-Française, Paris

Von Thomas Prochazka

Der Besuch von Opern- oder Theatervorstellungen in fremden Städten: oftmals ein Quell der Freude. Diesfalls in der Salle Richelieu der Comédie-Française.

II.
1791 spielte die Truppe um den großen Tragöden François Joseph Talma zum ersten Mal in diesem Haus. (Integraler Bestand des Palais Royal und dereinst als Theater für Tanz und Oper gedacht.) Den Zeitläuften geschuldet, hieß man das Haus damals Théâtre de la République. 1799, nach dem Brand des Odéon, wurde dessen Truppe »eingemeindet«. Von 1860 bis 1864 erfolgte eine Vergrößerung des Theaters unter Prosper Chabrol. Seit damals grüßen einander die Mar­morbüsten von Voltaire und Molière im großen Foyer.

II.
Die Salle Richelieu ist ein intimes Haus. »Corbeille« heißt der erste, vorgebaute Rang. Ein goldener Bienenkorb an der Brüstung erinnert an die großen Zeiten des zweiten Kaiserreiches. Bereits 15 Minuten vor Beginn ruft man das Publikum in den Saal. Nicht ohne Grund: Im Palais Garnier begibt man sich im Parkett der Nummerierung der Reihen, die Platznummern steigen zur Mitte hin an. Rechts die geraden, links die ungeraden Nummern. In der Salle Richelieu werden die Reihen mit Buchstaben unterschieden. Die Plätze mit den niedrigen Nummern befinden sich in der Mitte. Hier findet man die ungeraden Nummern auf der rechten Seite. Was wunder also, daß es sich das Personal angelegen sein läßt, jeden Besucher zu seinem Platz zu geleiten.

IV.
Im Zuge dieser Handlung erhält man das kostenlose Programmheft. Dieses verrät viel vom Um­gang der Triuppe der Comédie-Française mit ihrem Publikum: In deutschsprachigen Landen platzen die Programmhefte vor belehrenden Texten. Spielleiter und andere, von den Dra­maturgen als wichtig erachtete Personen legen ihre Sichtweise auf Werk und Szene dar. Und wenn auch dies nicht hilft, bleibt als letztes Mittel die Publikation des Textes, um den Programmpreis zu rechtfertigen.

Die comédiens der Comédie-Française begegnen ihrem Publikum auf Augenhöhe: Das Pro­gramm­heft präsentiert sich, ausgenommen eine Mitteilung in kleiner Schrift auf der Doppelseite mit der Besetzung, frei von Werbung. Die Inhaltsangabe umfaßt gerade einmal einen Absatz. Wer hier Vorstellungen besucht, weiß, was ihn erwartet. Bereitet sich vor. (Bei mangelnden Französischkenntnissen zum Beispiel mit Hilfe von Georg Büchners ausgezeichneter Über­tragung ins Deutsche.) Ein mündiges Publikum… Dieses erscheint zahlreich, auch an einem Samstagnachmittag: Kaum ein Platz bleibt unbesetzt, wenn die Mitglieder der Truppe die vier Jahre alte Inszenierung zum Leben erwecken.

»Lucrèce Borgia«: Elsa Lepoivre (Lucrèce Borgia) sterbend über der Leiche ihres Sohnes Gennaro (Gaël Kamilindi) © Comédie-Française/Christophe Raynaud de Lage

»Lucrèce Borgia«: Elsa Lepoivre (Lucrèce Borgia) sterbend über der Leiche ihres Sohnes Gennaro (Gaël Kamilindi)

© Comédie-Française/Christophe Raynaud de Lage

V.
Wer sich über Dominique Meyers Wahl der Spielleiter und Bühnenbildner für seine ersten Produktionen wunderte, findet hier die Erklärung. Der Palast zu Venedig präsentiert sich als leere Bühne mit einem Wolkenprospekt, einigen knorrigen, achselhohen und armdicken Baum­stämme sowie einer Gondel (Bühne: Éric Ruf, Licht: Stéphanie Daniel). 

Der Platz vor Lucrèce Borgias Palast in Ferrara: fünf Bahnen durchsichtigen, schwarzen Stoffes mit den eingewebten Buchstaben des Namens der Besitzerin. Davor spielt die Szene der jungen Edelleute, die Schändung von Lucrèces Namens: Gennaro, von seinen Freunden aufgeklärt über das mörderische Treiben der Bewohnerin, wird das »B« abschlagen.

Der Palast des Alphonse d’Este: Die Andeutung der Zinnen eines Renaissance-Baus mit schwarzem Holz als Prospekt, zwei kleine Stühle. Und mehr bedarf’s nicht: — wenn man über die richtigen Schauspieler verfügt.
(Das ist es.)

VI.
Christian Lacroix entwarf die historisierenden Kostüme. Jedes Wams zeigt, schwarz in schwarz gewebt bzw. bestickt, ein anderes Muster. Die kurzen Beinkleider der Venezianer entführen in die Zeiten, als die Borgia den Papst stellten und sich nicht zimperlich zeigten in der Wahl der Mittel, ihre Macht zu erhalten.

VII.
Spielleiter Denis Podalydés gelingen mit spärlichem, doch klugen Einsatz der Mittel ein­drucksvolle Szenen. Während sich die Bühne aus dem völligen Dunkel schält, erklingt ein rein instrumentaler Ausschnitt aus Giuseppe Verdis Simon Boccanegra. Eine akustische Welle rauscht auf, die liegenden Schauspieler bewegen sich mit ihr: Das Spiel hebt an. Eine ebensolche Welle wird die Bühne am Ende des über zwei Stunden dauernden, pausenlosen Spektakels wieder in undurchdringliches Dunkel tauchen. Im Verlauf des Stückes erklingen noch Melodien aus La traviata, Macbeth, Un ballo in maschera und Don Carlo. Untermalen die Szenenwechsel. (Auch das Theater will nicht gänzlich auf die Oper verzichten.)

VIII.
Die venezianischen Edelleute: Sie sprechen schnell auf Frankreichs erster Bühne. Zu schnell, um mit den »großen Alten« mithalten zu können: Die Lucrèce Borgia der Elsa Lepoivre bei­spiels­weise variiert Tempo und Lautstärke gekonnt. Beschwichtigend und liebevoll gegenüber Gennaro (Gaël Kamilindi), Frucht der Inzucht mit ihrem Bruder Jean Borgia, duc de Gandia. Auffahrend zu ihrem Gemahl, wenn sie Vergeltung fordert für die Schändung ihres Palastes. Beschwörend, flehend, als Gennaro sich als der Übeltäter entpuppt. Kraftvoll entschlossen, als es gilt, ihm das rettende Gegengift anzudienen; — und Rache zu nehmen an den venezianischen Edel­leuten im Palais der Princesse Negroni.

IX.
Thierry Hancisse ist ihr in der Partie des Gubetta als Verbündeter und vermeintlicher Spanier ebenbürtig. Die Szenen mit den jungen Venezianern allerdings: Die gehören ihm allein. Egal ob auf der Terrasse des Palais Barbarigo im Venedig des ersten Aktes oder der Bankett-Szene im Palais Negroni im dritten. Wie Hancisse diese Szenen mit Leben füllt, seine Rolle wortgewandt bis zum bitteren Ende für die Venezianer spielt: Das gehört zum Besten, was ich jemals auf einer Schauspielbühne sah.

»Lucrèce Borgia«: Das Palais der Princesse Negroni © Comédie-Française/Christophe Raynaud de Lage

»Lucrèce Borgia«: Das Palais der Princesse Negroni

© Comédie-Française/Christophe Raynaud de Lage

X.
Ähnlich verhält es sich mit dem Rustighello des Gilles David: Treuer Diener seines Herrn, weiß er genau um die ausgelegten Fallstricke der Mächtigen in der Renaissance. Als ihm Alphonse d’Este vorwirft, nichts dagegen unternommen zu haben, daß Lucrèce Borgia Gennaro das Gegen­gift geben konnte, antwortet Rustighello gewitzigt: »Oui, et puis le lendemain votre altesse se serait réconciliée avec madame Lucrèce, et le surlendemain madame Lucrèce m’aurait fait pendre.« (»Ja, und morgen würde Eure Hoheit sich mit Donna Lucretia versöhnt haben, und übermorgen würde Donna Lucretia mich haben hängen lassen.«)

XI.
Den Alphonse d’Este gab Éric Ruf, sociétaire honoraire der Comédie-Française und seit August 2014 deren administrativer Leiter. Im zweiten Akt bringt er eine unterarmgroße, weiße Figur des Herkules mit auf die Bühne. Aufgepflanzt auf einen der Baumstämme, verwandelt sich die Szene in den Palast der d’Este.

Wie Ruf Lucrèce Borgias ungestüme Rede mit leisen Worten ins Leere laufen läßt; — längst wissend, sich so ihres vermeintlichen Liebhabers entledigen zu können: Das macht tiefen Ein­druck, selbst wenn man des Französischen nicht mächtig ist. Es ist ein Duell, das sich Lepoivre und Ruf liefern, meisterhaft ausgetragen in Wort und Geste. Das Zentrum der Aufführung. 

Wie Ruf als Alphonse, vermeintlich niedergestreckt von Lucrèces Argumenten, auf seinem nie­drigen Stuhl kauert. Wie er sich dann erhebt, Lucrèce löwenhaft seinen jahrelang aufgestauten Widerwillen gegen das Haus Borgia an den Kopf wirft. Wie er sie zwingt, ihren vermeintlichen Liebhaber Gennaro zu töten… — Das ist so großartig gespielt, so meisterhaft in Szene gesetzt, daß man alles um sich vergißt.

XII.
Spielen mit der Stimme ist auch im Schauspiel möglich.

Weitere Vorstellungen von Lucrèce Borgia finden noch bis zum 1. April 2019 in der Salle Richelieu der Comédie-Française statt.

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