Hector Berlioz: »Les Troyens«
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
»Oh, immer diese unvermeidlichen Fragen«, stöhnte David McVicar 2012. Anläßlich der Vorbereitung zur Londoner Première dieser Produktion sollte er Rede und Antwort stehen über die Zeit, in welcher seine Inszenierung angesiedelt sein würde. »Wir wissen nicht, was die antiken Trojaner trugen«, so McVicar. »Und abgesehen von ein paar Bildervasen wissen wir auch nicht, was die antiken Griechen trugen.« Doch die Zeit von Hector Berlioz mit ihren vielen Neuerungen und Umwälzungen, das Kaiserreich Napoleons III., empfand McVicar als spannend. Deshalb verlegte er die trojanischen Akte in das 19. Jahrhundert.
III.
Imposant mußte es sein, das Trojanische Pferd. Die Szene beherrschend. McVicars Wahl für das Bühnenbild fiel auf Es Devlin, denn »ich brauchte jemand, der in großen Dimensionen denkt«. An Pop-Musik und Mode Interessierten wird Devlin als Gestalterin von Bühnenshows für Lady Gaga, Kanye West und Louis Vuitton ein Name sein. Und als Ausstatterin der Schlußzeremonie der Olympischen Spiele in London.
Für Les Troyens schuf Devlin beeindruckende Bühnenbilder: In Troja ist alles Metall, schmutzig-gelb und zumeist in fahl-blaues Licht getaucht (Licht: Pia Virolainen und Wolfgang Goebbel), während sich Karthago in gebranntem Ton, warmen Licht und mit farbenfrohen Kostümen (Moritz Junge) präsentiert. Erst als Troja in Karthago »einfällt«, beginnen sich die Farben in Richtung blau und grau zu wandeln. In Ende gleichen die beiden Städte einander.
IV.
Vor der Vorstellung trat Direktor Dominique Meyer vor das Publikum, um die Absage Anna Caterina Antonaccis bekanntzugeben. Monika Bohinec werde die Partie der Cassandre übernehmen. Bohinec habe die Partie studiert und sei die geplante Zweitbesetzung.
Zu diesem Zeitpunkt wußten Wiens Opernfreunde längst, daß Bohinec bereits in der Generalprobe für Antonacci eingesprungen war. Ob also unter diesen Umständen ein Einspringer-Bonus zu gewähren ist? Nun, ein Abschlag allemal. Leider verfügt Bohinec in keinem Takt über jene gesangstechnischen Fertigkeiten, welche für die gelungene Gestaltung einer Partie wie jene der Cassandre Vorbedingung sind. Doch mit der Seherin steht und fällt Troja. Diesfalls fiel es bereits zwanzig Minuten in den ersten Akt hinein. Der Rest: ein heroischer Todeskampf aller.
V.
Ich hörte gerne die Vorzüge, welche andere von Adam Plachetkas Gesang zu berichten wissen. Allein: Mir erschließen sie sich nicht. Auch in diesem Werk hörte ich Plachetka sich mit der Partie des Chorèbe mühen: mit grobem, breit geführten Ton und soviel Druck gesungen, daß ich mich angesichts der unbestrittenen Instrumentationskünste Berlioz’ über die eindimensionale Darstellung Plachetkas, vor allem, was die Lautstärke betraf, nur wunderte.
VI.
Mein Gefühl verstärkte sich mit dem Auftritt Panthées: Peter Kellner führte im Vergleich zu seinem Kollegen die Stimme viel enger, klang freier. Hinterließ den weitaus günstigeren Eindruck. Daß vor allem an der Aktivierung seiner Stimme am unteren Ende des Umfangs ebenso noch zu arbeiten sein wird wie am legato, sei nicht verschwiegen. Aber Kellner verfügt über ein schönes Material. Es behutsam weiterzuentwickeln, wird als Ensemble-Mitglied der Staatsoper keine leichte Aufgabe sein.
VII.
Brandon Jovanovich, den ich in Wien bislang nur im russischen Repertoire gehört hatte, begann den Abend wie seine Kollegen überaus kraftvoll. Zu kraftvoll. Es sollte bis zur Ankunft in Karthago dauern, ehe sich auch bei ihm die am Beginn des Abends vorherrschende Spannung gelegt haben würde. Höhepunkt von Jovanovichs Tuns waren schließlich »Nuit d’ivresse et d’extase infinie« und, als hätte Enée bis dahin nicht schon genug zu singen gehabt, die Szene »Inutiles regrets!« im fünften Akt. Da allerdings ließ der U.S.-Amerikaner mit über weite Strecken gut geführter Stimme aufhorchen. Und ich ertappte mich bei dem Gedanken, daß dies zu einem Teil der Länge des Abends geschuldet sein konnte, welche Jovanovichs Aussprache des Französischen entgegenkam.
Auch — Es Devlin sei Dank —: Fast schon kitschig, wie der um mehr als einen Kopf größere Enée im Finale des vierten Aktes seine Didon im einfallenden Dunkel der Nacht ins gemeinsame Gemach trägt…
(Ich liebe Kitsch. Vor allem, wenn er gut gemacht ist.)
VIII.
Die vorherrschende Spannung… Es war, als ob Antonaccis Absage alle Beteiligten in einen Schockzustand versetzt habe, über der Vorstellung ein Schatten lag. Selbst Alain Altinoglu, der vom Orchester den ganzen Abend hindurch leises, intensives Spiel forderte, war vorerst (zu) strikt in seinen Tempi. Das nahm der Musik ihren Atem. Fesselte sie. Erst mit dem warmen Licht Karthagos kam Ruhe in den Abend, begann Berlioz’ Musik zu pulsieren. Und dann wurd’ es schön…
Einen weiteren, irritierenden Moment bildeten die bis in den dritten Akt hinein zu lauten Chöre: neben dem Wiener Staatsopernchor auch der Slowakische Philharmonische Chor. Das lärmte denn vor allem in Troja das eine oder andere Mal. Auch war man nicht immer so beisammen, wie Berlioz es in der Partitur notiert hatte.
IX.
Lob ist auch dem Europaballett St. Pölten und den Artisten den Ape Connection zu zollen. Die von Gemma Payne verantwortete choreographische Einstudierung der Pantomime und des Balletts im vierten Akt animierten (wohl auch der farbenprächtigen Kostüme wegen) ein bis dahin mit Applaus geizendes Publikum zu spontanem Beifall.
X.
Richtig an Fahrt nahm der Abend erst mit dem Beginn des dritten Aktes auf. Dies war zu einem nicht geringen Teil der Didon von Joyce DiDonato geschuldet. DiDonato singt in einer anderen Liga als ihre Mitstreiter. Faszinierend, wie die Amerikanerin ihre Stimme führt. Mit jeder Phrase Gefühle transportiert, mit der Stimme »spielt«. Ob wir, das Publikum, überhaupt wissen wollen, welch intensive Beschäftigung mit einer Partie erforderlich sind, um zu diesem Grad an Intensität in der Rollengestaltung vorzudringen?
(Ich will freilich nicht verschweigen, daß auch DiDonatos Stimme nicht perfekt ist: Wenn es gilt, das Brustregister zu aktivieren, offenbaren sich Schwächen. Wird ein um’s andere Mal nachgedrückt, ändern sich Stimmfarbe und -sitz, um das erforderliche Volumen zu erzeugen. Doch — und auch darin offenbart sich DiDonatos Meisterschaft — gelingt es ihr immer, die tiefen Töne in die Phrasen einzubinden.)
XI.
Im fünften Akt überlassen Delvin und McVicar DiDonato die Bühne: Vor einem nachtblauen Vorhang, schutzlos, muß Didon an der Rampe ihre große Szene »Dieux immortels!« gestalten. Darf DiDonato diese Szene gestalten. … Sie tut es mit einer Meisterschaft und Intensität, welcher heute nur wenige Sänger fähig sind. Und mit einer Hingabe und (scheinbaren) Mühelosigkeit, welche die dahinterstehende Arbeit nicht erahnen läßt. Grand opéra vom feinsten.
XII.
In der Vorbereitung der Londoner Première dieser Produktion meinte McVicar, die Musik des dritten Aktes sei »dull« (»langweilig«) und stelle den Spielleiter vor große Herausforderungen. Er sei die »Gefahrenzone« des Werkes.
Berlioz komponierte das große Duett »Les chant joyeux« für zwei Mezzo-Soprane: für Didon und ihre Schwester Anna, gesungen von Szilvia Vörös. Nun, wenn so gesungen wird wie von DiDonato und Vörös, kann von langweilig keine Rede sein. Es ist erstaunlich, wie gut das junge Ensemble-Mitglied mit der Ersten Sängerin mithält. Wie sich die Stimmen der beiden mischen und dennoch unterscheidbar bleiben. Gewiß, auch Vörös zeigt Schwächen bei der Aktivierung des Brustregisters, welche es zu beheben gilt. Aber ihrer Stimme eignet ein Kern, auf den sich bauen läßt. Während Rachel Frenkel nicht mehr als einen rollendeckenden Ascagne auf die Bühne stellt…
XIII.
Weniger glücklich wurde ich mit dem Narbal des Jongmin Park. Der geforderte Tonumfang der Partie bereitet Parks Stimme keine Schwierigkeiten. Das Französische — schon eher: Parks überdeutliche Artikulation hemmt den Fluß der Sprache. Dadurch bricht die Gesangslinie immer wieder, will kein legato gelingen. Weniger wäre manchmal mehr.
Auch Paolo Fanale als Hofdichter Iopas überzeugt mich nicht. Läßt sein Tenor in der Mittellage ein angenehmes Timbre hören, legen die Spitzentöne der Arie »O blonde Cérès« schonungslos die stimmtechnischen Mängel (vor allem im passaggio) offen. Mängel, nicht Fehler.
XIV.
Der vierte Akt indes: das Zentrum der Aufführung. Durch Altinoglus exquisite musikalische Gestaltung, das Ballett, die lichttechnischen Effekte. Der empfangene Eindruck ist so stark, daß der Akt mit dem Septett »Tout n’est que paix et charme« schließen dürfte. Aber dann folgt — quasi als Draufgab’ — noch »Nuit d’ivresse«… — Und: »Italie!«
XV.
»Delenda Carthago…« Als Didon im Tode ihrem Volk den Untergang Karthagos durch jenes Rom weissagt, das Enées Nachkommen begründen werden, erscheint im Bühnenhintergrund ein übermannsgroßer, stählerner Krieger. Drohend, blutrot angestrahlt, verkündet er die kommende Zerstörung. Eindrucksvoll. (Es Devlin.)
Und all das nur, weil sich ein einfältiger Königssohn, als Schäfer aufgewachsen, von einer Göttin hinter’s Licht führen ließ. Ein goldener Apfel als Gegenleistung für die schönste Frau der Welt. Aber kein Wort davon, daß diese bereits die Frau eines anderen war…