Léo Delibes: »Sylvia«
Wiener Staatsballett
Von Ulrike Klein
Léo Delibes erhielt — nach dem Erfolg von Coppélia (1870) — den Auftrag, die Musik zu einem Ballett-Libretto von Jules Barbier und Baron Jacques de Reinach zu schreiben, welches auf Tassos Hirtendrama Aminta (1573) beruht. Mit diesem Ballett sollte das neuerrichtete Palais Garnier eingeweiht werden. Daß Delibes zu Probenbeginn im August 1875 nur einen Teil der Musik vorlegen konnte, entpuppte sich als Glücksfall. Nahm er doch bei der Komposition Rücksicht auf die choreographischen Vorstellungen des Tänzers Louis Mérante.
Die Uraufführung fand am 14. Juni 1876 statt. Sylvia war das erste Ballett, das im neuen Haus aufgeführt wurde. Und es war in vielerlei Hinsicht neu, sowohl musikalisch als auch choreographisch. Tschaikowsky schwärmte geradezu von der Musik: »Es handle sich um das erste Ballett, in dem die Musik nicht nur das Haupt-, sondern das alleinige Interesse darstelle. Was für ein Reiz, was für eine Eleganz, welcher Überfluß an Melodie, Rhythmik, Harmonie. … Ohne jegliche falsche Bescheidenheit sage ich Ihnen, daß mein Schwanensee der Sylvia nicht das Wasser reichen kann.«
Wie reizvoll die Musik ist. davon konnte man sich am gestrigen Abend überzeugen. Unter der Leitung von Kevin Rhodes brachte das Orchester der Wiener Staatsoper mit Rainer Honeck am Konzertmeisterpult die Partitur zum Blühen. Ein Geschenk für die Ohren.
Die Ausstattung wurde nach der erfolgreichen Zusammenarbeit bei Schwanensee und Le Corsaire wiederum der italienischen Kostümbildnerin Luisa Spinatelli anvertraut (welche übrigens gestern Geburtstag feierte). Mit relativ wenigen Accessoires, einer Grotte, einem Baum, Felsen und dem Rundtempel, evoziert Spinatelli den Wald, die Höhle und den Tempel der Diana. Ein goldener Thron für Eros, ein überdimensionaler Pokal zu Ehren Bacchus’. Dazu die wunderbaren leicht flatternden Kostüme. Die zarte Farbenpracht beschwört die Schäferszenen eines Jean-Honoré Fragonard herauf. Die Liebe zum Detail und zur Diversität läßt die Bühne zum puren optischen Genuß werden. Ein Geschenk für die Augen.
Auch wenn Sylvia nicht zu den bekanntesten Werken der Ballettliteratur gehört, findet das Werk doch den Weg auf die großen Ballettbühnen der Welt. Es gab immer wieder Rezeptionen durch namhafte Choreographen. Nach Serge Lifar (1941) und Georges Balanchine (1950 und 1964) nahm sich Sir Frederick Ashton 1952 des Werkes an. Seine Sylvia war Margot Fonteyn. In neuerer Zeit dann John Neumeier (1997) für das Ballett des Pariser Oper mit Aurélie Dupont und Manuel Legris in den Hauptrollen. Und nun Manuel Legris selbst.
Und nun zum größten Geschenk, zur Choreographie Manuel Legris’: sein Geschenk an die Compagnie und das Publikum. Die Ausführung durch die Tänzer des Wiener Staatsballetts: ihr Geschenk an Manuel Legris und das treue Publikum. Wie sehr die Wiener ihre Compagnie in dieser Ära lieben und schätzen gelernt haben, das zeigten die Begeisterung und der dankbare Applaus des Auditoriums. Aber auch etwas Wehmut schwang mit. Wieviele solcher Abende sind uns noch vergönnt? Wie lange dürfen wir noch teilhaben an der Entwicklung der jungen Tänzer? … Wieviele zählen schon 2019, 2019+, 2019++, auf daß es kein 2020/21 gebe?
In großer Verbundenheit mit der Tradition des klassischen Balletts schuf Manuel Legris auf der Basis Mérantes eine Choreographie für seine Compagnie. Diese erzählt die verworrene Handlung um Götter, Nymphen und Menschen leichtfüßig. (Gemeinsam mit Jean-François Vazelle modifizierte er das Libretto.)
Auf sehr hohem technischen Niveau, welches sich die Compagnie in den letzten Jahren hart erarbeitet hat, tanzen die Solisten die anspruchsvollen Rollen dieser mythologischen Geschichte.
Es ist die Geschichte des jungen Hirten Aminta, der sich in Sylvia, eine Nymphe aus dem Gefolge Dianas, verliebt hat. Da Dianas Jägerinnen zur Keuschheit verpflichtet sind, weist Sylvia ihn ab. Nun tritt Eros, der Gott der Liebe, auf und lenkt mit Hilfe der verschossenen Pfeile die Schicksale von Mensch und Gott. Sylvia lernt ihr Herz zu öffnen. In dieser Fassung finden die beiden am Ende unter dem Schutz des Liebesgottes zueinander.
Die Choreographie verlangt allen Tänzern die größte Arbeit ab. Von den Solisten bis hin zum corps de ballet sind alle auf höchstem Niveau gefordert. Da gibt es schnelle Richtungswechsel, eindrucksvolle Sprungvariationen, großartige Hebungen; — insbesonders, wenn Eros Sylvia aus Orions Höhle befreit. Die Gruppenszenen sind gekonnt gearbeitet. Der Ablauf wirkt natürlich, nicht einstudiert. Hierin liegt die große Kunst. Nichts bleibt statisch oder langweilt durch Wiederholungen. Choreographie und Musik verschmelzen. Da stört manchmal eher der Szenenapplaus, so stark ist der Sog der Musik…
Die drei Herrenpartien könnten unterschiedlicher nicht sein. Da ist der Gott des Mihail Sosnovschi, Ehre gebietend, spitzbübisch, wie Eros eben ist, kraftvoll die Geschicke lenkend. Unverkennbar auch in seinem Auftritt als Hexenmeister.
Davide Dato tanzt einen gefährlich wirkenden Orion. Dunkel und majestätisch erscheint er bei seinem ersten Auftritt. Großartig bei seinem Verführungsversuch in der Höhle, geschmeidig wie eine Raubkatze. Wie schön, daß er sich die Bühne so eindrucksvoll zurückerobert hat.
Und Denys Cherevychko als Hirte Aminta. Augenzwinkernd erzählte er vorab, daß es viel leichter sei, ein strahlender Prinz zu sein als ein einfacher Hirtenbursche. Umso bemerkenswerter seine Leistung, seine Soli und auch den pas de deux bravourös zu gestalten und dennoch in der Rolle zu bleiben.
Diana ist die kühle Göttin, die sich die Leidenschaft verweigert und dadurch eine gewisse Härte ausstrahlt. Genau dies gelingt Ketevan Papava ausgezeichnet. Sie ist nicht nur eine exquisite Tänzerin, sondern auch eine hervorragende Schauspielerin, wie wir aus vielen anderen Rollengestaltungen wissen. Eine unglaublich wandelbare Darstellerin.
Zum ersten Mal wurde Nikisha Fogo mit einer großen Rolle betraut. Sie ist Sylvia, die Jägerin, in der die Liebe erwacht. Während ihr die Leichtigkeit im Spiel mit den Gefährtinnen und die Überraschung über das in ihr erwachende Begehren und danach die Freude in der Erfüllung gut gelingen, hat sie noch Schwierigkeiten, wenn sie die spröde, abweisende Schöne sein soll. Da blitzt Unsicherheit auf. Tänzerisch hat sie die sehr anspruchsvolle Partie allerdings gut bewältigt. Chapeau!
Auch die kleineren Rollen sind typengerecht besetzt und bis ins kleinste Detail erarbeitet. Natascha Mair ist eine quirlige Najade, Ioanna Avraam und Alice Firenze bestechen mit klaren Linien als kühne Jägerinnen, und Sveva Gargiulo ist eine entzückende Bäuerin. James Stephens ein schöner Endymion, der Diana geschmeidig umgarnt. Dumitru Taran als Faun mit schnellen und exakten Sprüngen. Die Bauern und Hirten werden angeführt von zwei vielversprechenden jungen Tänzern: Géraud Wielick und Scott McKenzie.
Ein jubelndes Publikum feierte die Compagnie und dankte ihr für dieses Geschenk. Reicher Blumenregen ergoß sich über die Solistenriege. Apropos: Warum gibt es bei einer Ballett-Première keine Blumen vom Haus für die Tänzerinnen der Hauptpartien und das Leading Team? Bei einer Opern-Première ist dies doch gute Tradition.
Im Anschluß an die Vorstellung würdigte Hausherr Dominique Meyer die herausragende Leistung des Ensembles und ernannte Nikisha Fogo zur Ersten Solotänzerin. Nun beginnt für sie die eigentliche Arbeit: Die großen Partien wollen erobert werden.
Bis Ende November wird es noch weitere Vorstellungen der Sylvia im Haus am Ring geben, in drei wechselnden Besetzungen. Im Jänner 2019 folgt dann eine zweite Serie. Und bis dahin wird sich vieles, was naturgemäß bei einer Première noch etwas holpert, abgerundet haben. Und sehr viel homogener wirken.