Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Vom Singen, oder:
Was ist eigentlich »legato«?

Von Thomas Prochazka

In ihren Berichten meist wie nebenher notiert, attestieren einige Rezensenten Sängern der von ihnen besuchten Aufführung durchwegs die Fähigkeit, legato zu singen, während andere Berichterstatter vehement das Gegenteil behaupten. Dieser Widerspruch verdrießt — auch und gerade das Publikum. Wem soll es glauben? 

Sänger ersuchten mich, dem legato, einer der wichtigsten Grund­lagen des Opern­gesangs, einen Beitrag zu widmen. Ich will’s versuchen. Als Summe dessen, was ich lesend und lernend erfuhr; im Bewußtsein der Unvollständigkeit — denn es besteht immerhin die Möglichkeit, etwas falsch verstanden zu haben. (Ich wäre der einzige nicht.) Und im Bestreben, auch eine für den interessierten Laien verständliche Erklärung zu finden.

II.
Was also ist dieses »legato«, von dem immer die Rede geht? Unter legato versteht man beim Gesang die geschmeidige und gleichmäßige Verbindung von Tönen. Es ist die Basis des Kunstgesangs.

In der klassischen Musik gilt, daß prinzipiell alle Töne legato zu singen sind, wenn nicht andere, dem entgegenstehende Vortragszeichen wie z.B. marcato oder staccato notiert wurden. (Eine weitere Ausnahme bildet etwa die extra ausgewiesene Vortrags-/Tempo­bezeichnung Recitativo.) Das bedeutet aber, das legato quasi die »Grundeinstellung« ist, es keiner zusätzlichen Notation — wie etwa Bindebögen — bedarf. Als Beispiel diene der untenstehende Ausschnitt aus dem Klavierauszug von Richard Strauss’ Ariadne auf Naxos mit der Phrase »Es gibt ein Reich«.

Richard Strauss: »Ariadne auf Naxos«. Der Beginn von »Es gibt ein Reich« aus dem Klavierauszug

Richard Strauss: »Ariadne auf Naxos«. Der Beginn von »Es gibt ein Reich« aus dem Klavierauszug

 

Da beim legato die einzelnen Töne bruchfrei miteinander verbunden werden sollen, ergibt sich zwingend, daß die Notenwerte ausgehalten werden müssen. Der Übergang zwischen den Tönen soll unmittelbar erfolgen, d.h., ohne daß bei auf- oder absteigender Gesangslinie viele Zwischentöne erklingen. (Letzteres bezeichnete man als portamento. Es wird in den Partituren durch einen Bindebogen zwischen zwei Noten angegeben.)

Das war’s? Nun… — nicht ganz. Leider. Für das legato ist es auch notwendig, daß der Stimm­druck gleichmäßig bleibt. (Sänger sprechen oft auch von der »Komprimierung des Tones«.) Die Fähigkeit allein, Töne miteinander zu verbinden, erfüllt also noch nicht die Erfordernisse des legato. Leider scheinen viele heute den Unterschied nicht mehr zu hören.

III.
Warum ist die Beherrschung des legato für einen Sänger eine unerläßliche Bedingung? Weil legato jene Art zu singen ist, die den geringsten Kraftaufwand erfordert.

Beim Singen müssen verschiedene Muskelgruppen im Körper gleichzeitig im Gleichgewicht gehalten werden. Darunter fallen unter anderem das Zwerchfell und die untere Rippen­muskulatur sowie die Muskelgruppen im und um den Kehlkopf. Verbindet ein Sänger nun die Töne unterbrechungsfrei miteinander, ist nur eine Feinjustierung des Gleichgewichts aller beteiligten Muskelpartien erforderlich. Andernfalls bedarf es der erneuten Herstellung der Muskelgleichgewichte im Körper.

Leider kursieren (auch unter Sängern) immer wieder Vorurteile, wonach legato zu singen einen breiigen Klang verursache. Daß es eine schlampige Artikulation voraussetze. Oder daß es das Gegenteil von staccato sei. Das ist, die Alten wußten es, Unsinn.

IV.
Was erhebt die Beherrschung des legato nun zur Kunst, wo es doch eine Grundforderung des klassischen Gesangs zu sein scheint?

Die Praxis. Es gibt kein Lied, keine Arie, die nur im mezzoforte, auf einem Vokal und in Viertel­noten zu singen wäre. Die Forderung, mit gleichmäßigem Stimmdruck und geschmeidig die Töne miteinander zu verbinden, wird etwa erschwert durch die Artikulation, den erforder­lichen Vokal­ausgleich, den Rhythmus und die Dynamik.

V.
Ein Beispiel mag die Unterschiede hörbar machen helfen: Der Beginn von »Es gibt ein Reich«, der Szene der Ariadne aus Richard Strauss’ Ariadne auf Naxos, gesungen von drei international tätigen Sängerinnen. Die Namen tun nichts zur Sache. Es geht nicht darum, einzelne an den Pranger zu stellen. Es geht darum, das Bewußtsein für die Unterschiede zu schärfen, diese erfahrbar, hörbar zu machen.

Der Beginn von »Es gibt ein Reich« aus Richard Strauss’ Ariadne auf Naxos als Hörbeispiel für die vorgebliche und die korrekte Anwendung von legato.

  • Nina Stemme verbindet in dieser Aufnahme zwar die Töne mehr oder weniger gut, doch der Stimmdruck ist sehr ungleich­mäßig, es wird »überartikuliert«: »Eees giiibt eeein Reeeich…« Jeder Vokal ist zu kurz und wird nachgeschoben, man »eiert« von einem Ton zum nächsten.
  • Lise Davidsen weiß die Töne besser miteinander zu verbinden. Doch auch in diesem Fall werden — trotz des vom Tonmeister der Aufnahme applizierten Halls auf die Stimme — die Uneben­heiten im Stimmdruck hörbar: Jede Silbe erscheint uns übermäßig betont, die Konsonanten sogar teilweise überbetont. Doch jede Betonung eines Konsonanten unterbricht die Linie, erfordert die Neueinstellung des Gleichgewichts der beteiligten Muskelpartien.
  • Lisa Della Casa demonstriert die Kunst des legato: Die Betonung der Silben ist von einer bewun­derns­werten Gleichmäßigkeit, die Übergänge von einem Ton zum nächsten erfolgen auf natürlich anmutende Weise. Wo die Kolleginnen beim Abstieg auf das tiefe Sopran-›as‹ in »Totenreich« künstlich die Lage des Kehlkopfes verändern, »nachdrücken«, erzielt Della Casa denselben Effekt auf die richtige Art und Weise: durch die Veränderung der Spannung, des Gleichgewichtes der beteiligten Muskeln im Kehlkopf.

Machen Sie die Probe auf's Exempel: Hören Sie sich von den Ausschnitten jeweils die ersten zwei, drei Phrasen unmittelbar hintereinander an. Vergleichen Sie. Die Unterschiede sind auch für den interessierten Opernfreund zu hören.

VI.
Legato zu singen ist kein Selbstzweck. Es ist die Voraussetzung für eine technisch gut geführte Stimme und eine lange und erfolgreiche Karriere. Und zählte auch für Richard Wagner zu den Grundforderungen an seine Sänger. Der richtige Gebrauch des legato ist eine Kunst; — die heutzutage leider nur wenige in erforder­lichem Maße beherrschen. Kurze Karrieren und »Fach­wechsel« auf Grund steter Überbeanspruchung der Stimmen legen davon Zeugnis ab.

Die bloße Aneinanderreihung von Tönen, wie heute oft zu hören auf den Bühnen dieser Welt, mag vieles sein; — legato ist es nicht.

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