Franz Welser-Möst am Pult der Wiener Philharmoniker bei seinem dritten Silvesterkonzert © Wiener Philharmoniker/Dieter Nagl

Franz Welser-Möst am Pult der Wiener Philharmoniker bei seinem dritten Silvesterkonzert

© Wiener Philharmoniker/Dieter Nagl

Silvesterkonzert 2022 der Wiener Philharmoniker

Musikverein Wien

Von Thomas Prochazka

Jeder Dirigent des Neujahrskonzerts hat gegen drei Mächte zu kämpfen: gegen Clemens Krauss, gegen die Strauss-Familie, und gegen Willi Boskovsky (in dieser Reihenfolge).

Bei Franz Welser-Möst gesellt sich noch eine vierte Macht hinzu: Bis auf die Aquarellen, Josef Strauss’ Walzer op. 258, fiel die gemeinsame Wahl auf nur erklärten Liebhabern und Experten der Musik der Familie Strauss bekannte Werke. Der Abend lohnt das Vorhaben: Orchester und Dirigent gelingt das » wienerischte « Silvesterkonzert seit langem.

II.
Die Walzer bilden traditionell die Kernpunkte jedes Neujahrskonzerts. Um sie herum gruppieren sich Polkas, Märsche, die eine oder andere Quadrille, Ouverture und Charakterstücke. Gelingt es, mit dem ersten die Gunst des Publikums zu gewinnen, ist die erste Programmhälfte gerettet. Findet der erste Walzer nach der Pause enthusiastischen Zuspruch, ist der durchschlagende Konzerterfolg kaum noch aufzuhalten. Diesmal stammen auf Maestro Welser-Mösts Vorschlag vier der sechs Walzer aus der Feder von Josef Strauss.

Der erste Walzer: Josef Strauss’ Helden-Gedichte, op. 87, uraufgeführt am 25. Mai 1860 anläßlich der Fertigstellung der Reiterstandbilder von Erzherzogs Carl, dem Sieger gegen Napoleon I. in der Schlacht bei Aspern (1809), und Prinz Eugen von Savoyen, Heerführers in den Türkenkriegen des 17. Jahrhunderts. Welser-Möst läßt sich Zeit. Entwickelt die Introduktion aus dem eröffnenden Trommelwirbel und einer Bläserfanfare, die Kaiser Franz Joseph bei der Denkmalenthüllung vor unserem geistigen Auge imaginiert. Nach einem prominent gesetzten Soloeinwurf der Harfe zieht Maestro Welser-Möst in einem musikalischen coup de théâtre den ersten Walzer aus dem pianissimo so gewaltig hoch, daß die überwältigende Wirkung nicht ausbleibt. Die Wiener Philharmoniker mit Konzertmeister Volkhard Steude folgen willig, die sparsam gesetzten ritardandi fügen sich organisch in den musikalischen Fluß, die erste Entdeckung ist gemacht.

Zuvor schon hatte man das Publikum überrascht: Mit der Schnellpolka op. 251 Wer tanzt mit? des » schönen Edi « war der Boden bereitet worden für das, was noch folgen sollte.

III.
In der Zigeunerbaron-Quadrille, op. 422, hatte Johann Strauss auch heute, da die klassische Operette mangels geeignetem Personal kaum mehr aufgeführt werden kann, unbekanntere Melodien verarbeitet. Wie immer in Wien sechsteilig und mit untrüglichem Wissen um das vom Publikum erwartete, große Finale, sparte Strauss das Motiv des Einzugsmarsches bis zum Schluß auf. Franz Welser-Möst, weit davon entfernt, jeden Takt zu schlagen, ließ das Orchester spielen, wippte am Podium mit, ehe alle zum Schlußakkord mit dem Fuß aufstampften. Wienerischer geht’s kaum …

Carl Michael Ziehrer schuf den zweiten Walzer des Abends: In lauschiger Nacht, op.  488, basiert auf Melodien seiner im Juli 1899 mit überwältigendem Erfolg in der Sommerarena des Vergnügungsparks » Venedig in Wien « im Prater uraufgeführten Operette Die Landstreicher, Bw. 11. Laut Max Schönherr arrangierte Ziehrer die Melodien der Operette — anders als Johann Strauss — in kleinteiliger Manier, um daraus Walzer, Polkas und Märsche für den Ball- und Konzertgebrauch zu schaffen. (Daß Ziehrer das Thema der erfolgreichsten Nummer, Sei gepriesen, du lauschige Nacht ungeniert aus dem 40 Jahre zuvor entstandenen Walzer Spiralen, op. 209, von Johann Strauss » geborgt « hatte, war weder dem Erfolg der Operette noch jenem des Walzers abträglich.)

Maestro Welser-Möst interpretiert auch diese (dreiteilige) Walzer-Partie als Konzertwalzer: eine mögliche, meinem Gefühl nach jedoch falsche Auffassung, welche \ nicht nur durch Max Schönherr, sondern auch durch die ebenfalls ur-wienerische Interpretation von Robert Stolz widerlegt wurde. Mir will scheinen, Ziehrer-Walzer sind zuallererst Tanzwalzer. Als solche stören zu große Tempomodifikationen ebenso wie die ausladenden, weiten ritardandi, in Wien auch liebevoll — wie falsch — » Taktwechsel « genannt. (Denn ebendieser, der ¾-Takt, wechselt ja nicht.) Passionierte Walzertänzer wissen, wovon ich spreche. — Selbstverständlich klingen die » Wiener « auch in diesem Walzer verführerisch, sind die einzelnen Instrumentengruppen fein gegeneinander abgestimmt, stellt sich in den drei Walzern der Partie jenes musikantische Element ein, dessen es so oft gebricht.

Immer wieder ließ Welser-Möst das Orchester einfach spielen: Bei Johann Strauss’ Schnellpolka Frisch heran!, op. 386 ebenso wie Eduard Strauss’ op. 73, Auf und davon, oder des mittleren Bruders For ever, op. 193. Dirigierte zeitweise nur mit Kopfbewegungen

IV.
Nach der Pause und der Ouverture zur Operette Isabella von Franz von Suppè schließlich Josef Strauss’ Brautgeschenk an seine große Liebe, die Postbeamtentochter Carolina Josepha Pruckmayer: Perlen der Liebe, op. 39. Von Strauss selbst als » Concert-Walzer « betitelt, eröffnete er die zwar im ¾-Takt stehende, doch alles andere als einen Walzer vermuten lassende, Largo notierte Introduktion in fis-moll. Nach einem Allegro-Einschub bahnt sich der erste Walzer (in D-Dur) Raum, mit romantischen Melodien, eine inniger und liebevoller als die nächste. In Franz Welser-Mösts und der Wiener Philharmoniker Hände gerät die Wiedergabe zu einem Höhepunkt des Konzertes. Der Dirigent folgte Strauss‘ dynamischen Vorzeichen genau, durchmaß binnen weniger Takte die Skala vom pianissimo ins fortissimo. Das klang im ersten Augenblick ungewohnt, kam jedoch der Gliederung dieser Ton gewordenen Liebeserklärung zupaß. Die letzten 14 Takte des Werkes, mit Lento überschrieben, geben beredt Zeugnis eines übervollen, liebenden Herzens. Zärtlichkeit als Musik … Und die » Wiener « legen all ihr Gefühl darein. Glücklich, wer so geliebt wird. Genial, wer seine Liebe so auszudrücken vermag.

Maestro Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker, geführt vom Konzertmeister Volkhard Steude © Wiener Philharmoniker/Dieter Nagl

Maestro Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker, geführt vom Konzertmeister Volkhard Steude

© Wiener Philharmoniker/Dieter Nagl

V.
Gerald Wirth bearbeitete Josef Strauss’ Polka française Heiterer Muth, op. 281, für Oberstimmen-Chor und Orchester. Die Wiener Philharmoniker luden dazu in alter Tradition die Wiener Sängerknaben und, erstmals, die Wiener Chormädchen. Wer den Text verstand, weiß nun alles über den Löwenzahn …

Danach wieder ein Walzer von Josef Strauss: Zeisserln, sein op. 114. Ein Walzer in der Art der Dorfschwalben aus Österreich oder Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust: romantisch, doch ohne jene Melancholie, welche die Helden-Gedichte oder die Perlen der Liebe umfloren. Eine lohnende Erweiterung des Josef Strauss-Repertoires; ein Walzer, der mehrmaliges Hören lohnt (wie seine Kameraden).

VI.
Franz Welser-Möst muß in hohem Maße die Gabe der Überzeugung und (musikalischen) Verführung besitzen: Kaum vorstellbar, daß die Wiener Philharmoniker zu den Zeiten des seligen Willi Boskovsky ein Stück wie das Allegro fantastique, eine Orchesterfantasie, JosSWV Anh. 26b, auf’s Programm gesetzt hätten: ein Bravour-Stück für die Streichinstrumente, uraufgeführt im Juli 1861 im Casino Dommayer in Hietzing. Die Tonsprache verweist auf Wagner, die chromatischen Sequenzen des Mendelssohn‘schen Sommernachtstraumes, auf Johannes Brahms‘ Orchestersatz. Maestro Welser-Möst und die » Wiener « spannen ihre Kräfte; — und ernten überraschend viel Applaus für ein Stück, das von der traditionellen Wiener Tanzmusik soweit entfernt ist wie vielleicht kein anderes aus der Feder des Josef Strauss.

Zum Abschluß des offiziellen Programms schließlich der Aquarellen-Walzer, Josef Strauss’ op. 258. Schlagtechnik ist endgültig passé: Mit großer Geste horizontal von links nach rechts streichend, lädt der Dirigent das Orchester zum Musikmachen ein, das erste Thema des Kopfwalzers rauscht auf, nicht zu schnell — wie Welser-Möst denn überhaupt die Walzer gemächlicher nimmt —, doch mit selten zu erlebender Musizierfreude. Man spielt auf technischem und interpretatorischem Niveau, das mehr als nur staunen macht: das begeistert. Alle Anspannung scheint von Franz Welser-Möst abgefallen zu sein, kreisende Bewegungen der linken Hand sind alles, dessen es bedarf. Die Walzer fügen sich nahtlos, laufen rund und harmonisch » durch «. Die Freude am gemeinsamen Musizieren wird spürbar, läßt selbst alle trickreichen ritardandi gelingen …

VII.
Jeder Dirigent des Neujahrskonzerts hat gegen drei Mächte zu kämpfen: gegen Clemens Krauss, gegen die Strauss-Familie, und gegen Willi Boskovsky (in dieser Reihenfolge). Seit heute wird er sich auch an Franz Welser-Möst messen lassen müssen.

  1. Max Schönherr: » Carl Michael Ziehrer. Sein Werk — Sen Leben — Seine Zeit «, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1974, ISBN 3-215-61827-3, S. 445 f

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