Hans Werner Henze:
»Das verratene Meer«
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
Knapp vor Weihnachten 2020 ging die Première pandemiebedingt vor einem (fast) leeren Rund über die Bretter. Wurde via Stream in alle Welt geschickt. Jetzt dräute die Stunde der Wahrheit: Wie würden sich Stimmen und Orchesterklang im Haus mischen? Welche Eindrücke würde man, den Abend in der Totalen erlebend, empfangen?
Zwei Erkenntnisse: Das Produktions-Team hatte für die Übertragung ganze Arbeit geleistet; mit eindrucksvollen Bildern; mit — nun haben wir’s erfahren — hervorragender, vorteilhafter Abmischung der Gesangsstimmen. Und: Die vor neun Monaten gewonnenen Eindrücke scheinen auch heute noch gültig.
III.
Es verwundert, daß die »Firma« Jossi Wieler & Sergio Morabito trotz ihres Eintretens für das »Musiktheater« (anstelle der Kunstform »Oper«) wenig Wert auf Authentisches zu legen scheint: Wie wahrscheinlich ist es selbst in einem »Musikdrama«, daß sich ein japanischer Jugendlicher nach katholischem Ritus bekreuzigt, wenn er den anderen Bandenmitgliedern berichtet, sein Vater bete jeden Tag für alles Mögliche? Fiel es den Herrschern über den Abend nicht auf, daß Vera-Lotte Boecker als Fusako Kuroda selbst in ihren geta nach westlicher Manier über die Bühne eilte, anstatt jene kleinen, raschen Schritte zu tun, die den Japanerinnen anerzogen sind?
IV.
Nun also die »Première vor Publikum«: unverstärkter Gesang in der gewohnten Akustik der Wiener Staatsoper. (Mit Ausnahme der Geräusche und Jörg Schneiders kurzem Einwurf als Schiffsmaat, beides von der Tontechnik zugespielt.) Wenn die Sänger in dieser Konstellation Schwierigkeiten haben, über dem Orchester hörbar zu bleiben: Liegt das an Hans Werner Henzes Komposition? An Simone Youngs Wirken im Orchestergraben? An den gesangstechnischen Fähigkeiten der Sänger? Oder an einer Kombination von allen dreien?
Von Simone Young wissen wir, daß es unter ihrer Stabführung gerne mal lärmt. Präzision und Lauschen auf der Sänger Bemühen zählt, nicht nur bei Henze, zu ihren Stärken nicht. Trotzdem ist kapellmeisterlich Zufriedenstellendes zu notieren. Das gilt auch für diese Aufführung; — selbst wenn ein Mehr an musikalischer Gestaltung dieser zu größerer Eindringlichkeit verholfen hätte. So klang vieles flächig; (zu) undifferenziert.
V.
Am besten kam — wiederum — Bo Skovhus als Ryuji Tsukazaki mit den musikalischen Gegebenheiten zurecht. Der zweite Offizier der »Rakuyo-Maru« und Liebhaber Fusakos behielt noch am häufigsten den Kopf über den sich immer wieder aufbäumenden Orchesterwogen. Ungleichmäßige Tongebung auch in seinem Fall, doch verstand ich, wovon Skovhus sang.
Weniger gut war es um Vera-Lotte Boecker in der Partie der Fusako Kuroda bestellt. Sie hatte ich aus der Übertragung stimmlich stärker in Erinnerung. Leider versiegte Boeckers Stimme, wie jene fast aller heute tätigen Soprane, ein um’s andere Mal auf dem Weg zum tiefen Register. Doch ohne dieses Fundament vermag sich die Höhe nicht richtig zu entfalten; gerät scharf. Leidet die Textdeutlichkeit.
Wenig zufriedenstellend auch Josh Lovell als Fusakos Sohn Noboru: Die schon im Stream vernommene Enge ab dem passaggio erschien mir nun, live, noch stärker hörbar. Lovells Stimme mangelt der Kern; — so mancher Ton klang unrein, die Stimme trocken. Mehr Spieltenor als lyrischer. (Das ist es.) Doch damit fehlte es an jener Durchschlagskraft, die uns mit dem 13-jährigen Noboru mitfiebern, mitleiden ließe. Die uns seine Brutalität (als doch Feinsinnigster der Jungenbande) nahebrächte. Als Antwort auf die erlittenen Demütigungen, die Eifersucht, die Angst des Pubertierenden: vor dem Älterwerden, der Gesellschaft, dem neuen Mann in Mutters Leben.
VI.
Mannigfaltige Einwände …
Und dennoch: kein verlorener Abend. (Noch zweimal.)