Nikolai Tscherepnin: »Le Pavillon d’Armide«
Igor Strawinski: »Le Sacre«
Wiener Staatsballett
Von Ulrike Klein
Die Welt der Ballets Russes verströmt noch heute ihre Faszination. Vor dem inneren Auge tauchen Bilder der Produktionen aus der Zeit kurz vor dem ersten Weltkrieg auf. Die Magie der Compagnie Diaghilews ist immer noch zu spüren. Das Talent dieses Mannes, die diversen Kunstgattungen zu verbinden war einzigartig; — die Avantgarde der Musik, allen voran Igor Strawinski, die Maler Léon Bakst und Alexander Benois (nach ihm wurde des Prix Benois de la Danse benannt), bedeutende Choreographen wie George Balanchine und Serge Lifar — als wahrer Impresario seiner Zeit gelang es Diaghilew, die diversen Kunstgattungen miteinander zu verknüpfen und damit die Ballettkunst bis heute zu beeinflußen.
Le Pavillon d’Armide wurde vor 110 Jahren in St. Petersburg uraufgeführt. Zwei Jahre später machte die überarbeitete Choreographie von Mihail Fokine in Paris Furore, besonders der pas de trois mit Vaslaw Nijinsky, Tamara Karsawina und Alexandra Baldina ließen das Werk zu einem großen Erfolg werden. John Neumeiers Auseinandersetzung mit dem Tänzerphänomen Vaslaw Nijinsky spiegelt sich in einigen seiner Choreographien wider.
Zur Musik Nikolai Tscherepnins erzählt Neumeier Ausschnitte aus dem Leben Nijinskys, die leidvollen Jahre in Sanatorien werden durchbrochen von Rückblenden seiner größten tänzerischen Erfolge. Bühne, Licht, Kostüme, Musik und Tanz werden zu einem Gesamtkunstwerk. John Neumeier gelingt es, die Zeiten miteinander zu verweben, verschiedene Ebenen, Gegenwart und Vergangenheit, Fiktion und Wirklichkeit zusammenwachsen zu lassen. Da wandeln sich unmerklich die Rollen, der Arzt, Roman Lazik, wird zu Diaghilew, die Frau, Nina Poláková, zu Armide. Die Doppelungen von Figuren, die bei den meisten Regiearbeiten ins Leere zielen, werden hier sogar noch zu einer Verdreifachung gesteigert: Der Schüler Nijinsky, Richard Szabó, begegnet dem Tänzer Nijinsky, Denys Cherevychko, und dem Mann, Mihail Sosnovschi.
Figuren und Tänzer aus der Zeit der Ballets Russes treten auf und verschwinden unmerklich wieder, der Hauch einer längst vergangenen Zeit weht über die Bühne. Davide Dato als Solist des danse siamoise, Maria Yakovleva als Tamara Karsawina und Nina Tonoli als Alexandra Baldina lassen die bekannten Photographien lebendig werden. Kleinste Gesten rufen Assoziationen mit den großen Rollen Nijinskys hervor, sei es Petruschka oder der Nachmittag eines Faun.
Die große Leistung der Tänzer besteht vor allem darin, den Stil der Ballets Russes wiederaufleben zu lassen, die moderne Technik quasi zu vergessen und zu Karsawina und Nijinsky zu werden. Parallel dazu wird ihnen die Tanzsprache John Neumeiers abgefordert. Ohne Bruch gelingt dies auf außerordentliche Weise. Die Lorbeeren des Abends gebühren Mihail Sosnovschi, der zu Nijinsky wird und uns alle an seinem Schicksal teilhaben läßt.
Die letzten Takte leiten bereits zum zweiten Teil des Abends über. Anklänge an Strawinskis Le sacre du printemps leiten von der spätromantischen Klangsprache in die Moderne über.
Igor Strawinskis Le sacre du printemps, in der Choreographie von Vaslaw Nijinsky im Mai 1913 in Paris uraufgeführt, hat viele zeitgenössische Choreographen inspiriert. John Neumeiers Version Le Sacregelangte 1972 in Frankfurt am Main zur Uraufführung und wird nun erstmals auch in Wien gezeigt. Er löst die Handlung, wenn es denn eine gab, auf und konfrontiert sein Publikum mit den Mächten, Ängsten und Schrecken, die der Mensch auszulösen imstande ist.
Es werden einzelne Tänzer hervorgehoben, Rebecca Horner, Alice Firenze und Eszter Ledán bei den Damen, Eno Peci und Masayu Kimoto bei den Herren sowie als Paar Ioanna Avraam und Francesco Costa.
Aber eigentlich gilt es eine Ensemble-Leistung zu würdigen. Da tanzt ein Kollektiv, aus dem hin und wieder einzelne Gruppierungen oder Individuen hervortreten. Kraft und Macht, gehetzt werden, und das über die Erschöpfung hinaus, die Grausamkeit der Menschheit wird hier vorgeführt. Hier wird nicht mehr nur ein Frühlingsopfer dargebracht, hier leidet das gesamte Kollektiv.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt übrigens die Lichtregie, auch diese von John Neumeier konzipiert.
Michael Boder, der mit der heutigen Première sein Debut als Ballettdirigent im Haus am Ring gab, leitete das Orchester der Wiener Staatsoper, mit Volkhardt Steude am Konzertmeisterpult. Es ist wahrer Luxus, sowohl die Musik Nikolai Tscherepnins als auch Igor Strawinskis Le sacre du printempsvon diesem Orchester gespielt zu hören. Das ist keine Selbstverständlichkeit, es wird nur in Wien immer so wahrgenommen.
Großer Jubel für die Solisten des Ensembles, für das Orchester und vor allem für John Neumeier, der diese Première quasi als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk entgegennehmen darf.