Giacomo Puccini: »Turandot«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Richtet man sich nach dem Jubel des Publikums, war die Eröffnungsvorstellung der Saison 2016/17 ein voller Erfolg. Wer genauer hinhörte, wird von einer sehr guten Tenorleistung und einem ebensolchen Dirigat berichten, von schwachen Sopran­leistungen und unpräzisen Choreinsätzen.
Denn man ist hier, um die Wahrheit zu sprechen.

II.
Marco Armiliato kehrte nach zwölf Jahren wieder für Turandot ans Pult des Staatsopernorchesters zurück. Der Genueser ließ eine eher rasche, inspirierte, vom Parterre-Stehplatz aus auch in manchen Teilen (zu) laut klingende Lesart der Partitur hören. Wie Armiliato allerdings die Rätselszene gestaltete, die Höhepunkte auskostete, selbst das Alfanosche Blendwerk des Finales zu cachieren wußte: Das wies dem von Teilen des Feuilletons hochgelobten Dirigenten der Premièren-Serie den ihm gebührenden Platz zu.

Im Orchestergraben spritzte, brodelte, zischte und dampfte es, wurden emsig die fernöstlichen Farben gemischt und mit kräftigem Pinsel aufgetragen. Denn manche Passagen — wie z.B. der »Mondchor« — hätten durchaus ein wenig mehr orchestrale Zurückhaltung und Innigkeit vertragen. Waren es Abstimmungsprobleme nach der Rückkehr aus dem Großen Festpielhaus?

Ähnliche Probleme schienen auch den Staatsopernchor zu plagen: Da war man oft nicht zusammen, da gab’s zu späte Einsätze, klang manches verwackelt.

III.
Marco Arturo Marellis Inszenierung brachte auch bei der ersten Wiederbegegnung nach der Premièren-Serie Ende April 2016 keine neuen Erkenntnisse. Ausgenommen vielleicht jene, daß die Inkongruenz von Text und Aktion mit jedem Besuch zunimmt. Eine psychologische Entwicklung der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander finden auch mit teilweise neuem Personal nicht statt. Die vom Spielleiter im Programmheft extra hervorgehobene Gefühlskälte Calafs — auf der Bühne sucht man sie vergebens. … Daß es dem Spielvogt und Ausstatter in einer Person gelang, diese seine Sichtweise auf Turandot binnen zwei Jahren drei österreichischen Bühnen zu verkaufen, erzählt im übrigen mehr über die Intendanten denn die Qualität der Marellischen Arbeit.

III.
Exkurs (für die musikwissenschaftlich/philologisch Interessierten).

Überhaupt: die Programmhefte, ewiger Quell der Freude für den Opernfreund. »Puccini dachte in dem Stück an den Triumph einer Frau, auf der Bühne aber auch den einer Primadonna. Unter den Opernkomponisten war er der letzte, der ihnen große Rollen schrieb«, läßt Marco Arturo Marelli das Publikum wissen. Den Wiener Opernfreunden fallen spontan eine Arabella (1929), Gräfin Madeleine (1942) und — ganz aktuell — die Danae (1944/1952) des Richard Strauss ein. … Man wundert sich, was so alles die Schreibtische der Dramaturgie passiert. (Das heißt: Natürlich nur so lange, bis man die September-Ausgabe des »Prolog« gelesen und darin die zahlreichen Rechtschreib- und Grammatikfehler entdeckte. Aber das ist eine andere Geschichte.)

IV.
Olga Beszmertna debutierte als Liù im Haus am Ring. Während sie im ersten Akt bei »Signore, ascolta!« noch gute Figur zu machen wußte, mußte sie im dritten den Offenbarungseid leisten: »Tu, che di gel sei cinta«, die Abschiedsszene der Liù und das diese einleitende Rezitativ, zeigten gnadenlos die Grenzen der Sängerin auf. Wechselnder Stimmsitz im tiefen und im hohen Register war da ebenso zu konstatieren wie jene Schärfe, welche die Partie der Liù als falsches Repertoire ausweist. Wie da im Mai 2017 die lyrische Partie der Tatjana in Tschaikowskis Eugen Onegin gelingen soll?

V.
Lise Lindstrom kämpfte wieder mit den Tücken ihrer Partie. Und unterlag abermals.

Mochten viele im Auditorium auch jubeln, aufmerksamen Zuhörern wird nicht entgangen sein, daß die Stimme der Kalifornierin den lyrischen Passagen der Turandot nicht gerecht wurde: »In questa Reggia« verlangt nach festem Stimmsitz, profunder Tiefe und klug, aber kraftvoll eingesetztem hohen Register. Auch fehlte es an der Phrasierung und somit an der stimmlichen Gestaltung der Partie. Bezeichnend das Duett mit Calaf im dritten Akt: Da klang mir Frau Lindstroms Stimme auch in der Mittellage stumpf und dünn — ohne Körper. Und: Soweit auseinander wie gestern mehrmals dürften Solist und Orchester eigentlich nie sein.

VI.
Bis zum 1. September war Johan Botha den Opernfreunden für die Partie des Calaf angekündigt worden. MerkerOnline-Leser wußten zu diesem Zeitpunkt freilich schon, daß Marcello Giordani nicht nur die vorherige Spielzeit beschließen, sondern auch die neue eröffnen würde.

Die Stimme, mit welcher der gebürtige Sizilianer — zum ersten Mal übrigens — in Wien Calaf sang, erzählte stolz von der jahrzehntelangen Carriére ihres Trägers. Vor allem in den ersten Minuten (und leider auch nach der Pause, beim tenoralen Höhepunkt des Abends), klang sie angestrengt und (zu) vibratoreich.

Giordani ist, die Opernfreunde wissen es, manchmal ein Rauhbein, kostet die delicatezza der Phrasen nicht immer aus. Dennoch: Einmal warm gesungen, gab er profundes Zeugnis von jener großen italienischen Gesangstradition, in welcher das tiefe Register das Fundament darstellt, aus welchem das hohe organisch erwächst. Wie der Tenor in der Rätselszene seine Phrasen entwickelte, beim Bekenntnis »Ti voglio tutta ardente d’amor!« mühelos und organisch eingebettet in die Phrase das hohe C der alternativen Fassung erklomm — das tun ihm im heutigen Opernbetrieb nicht viele gleich.

Die Wahrheit über den gestrigen Abend: Wer italienische Oper als Fest der Stimmen begreift, wird sich mit den von den Damen gezeigten Leistungen nicht zufriedengeben können.

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