Benjamin Britten:
»A Midsummer Night’s Dream«
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
A Midsummer Night’s Dream zeigt uns Benjamin Britten immer noch auf der Suche nach der englischen Oper; — und nach einer Wiederholung des Erfolges von Peter Grimes (1945). Allein, die Zeitläufte sind andere: Während Britten mit A Midsummer Night’s Dream an die Traditionen eines Henry Purcell, eines Georg Friedrich Händel anschließen will, feiert Leonard Bernstein auf der anderen Seite des »kleinen Heringsteiches« (© Gustav Mahler) mit Wonderful Town (1953) und West Side Story (1957) jene Erfolge, die die Weiterentwicklung der Kunstform Oper zeigen. Doch litten die Vereinigten Staaten nicht an den Traumata eines Weltkieges auf ihre Scholle. Zeigten sich immun gegenüber dem Versuch, der Musik rational beikommen zu wollen. (Die europäische Oper krankt heute noch daran.)
Anders als Verdi, der Francesco Maria Piave Shakespeares Macbeth übersetzen und, mehr noch, für seine Zwecke einrichten ließ, verwendete Benjamin Britten den gemeinsam mit seinem Lebensmenschen Peter Pears eingekürzten Stoff des großen englischen Dramatikers. Britten begab sich damit der geschlossenen musikalischen Form: Text (und damit die Musik) fließen immer weiter.
Diese Entscheidung Brittens läßt uns die Partitur, wiewohl mit ihrem Flirren und Klingen, ihrer Durchsichtigkeit auf das Thema abgestimmt, blutleer erscheinen. British. Selten nur wollen sich Melodien ans Ohr schmiegen, der deklamatorische Gesang herrscht vor.
Das bedeutet nicht, daß Brittens Musik nicht witzige Züge trüge: Anleihen an Purcell sind ebensowenig zu überhören wie die aus dem zweiten Aufzug Tristan und Isolde herüberzwinkernden Hornsignale oder die an die italienische Oper eines Vinzenco Bellini erinnernden Melodien in der Aufführung der Handwerker. Eine — an diesem Abend auch szenisch und darstellerisch — gelungene Parodie auf die italienische Oper. Auch der Einsatz eines Counter-Tenors für die Partie des Oberon mag man als Reminiszenz an die Opern Händels deuten. Und bei mehrmaligem Hören, bei weitergehender Beschäftigung mit dem Gegenstand werden Opernfreunde noch weitere Zitate und Anspielungen entdecken. Doch ist dies ein intellektueller Spaß; — bei wenig emotionaler Berührung.
III.
Wer sich beim Mitlesen für die englischen Untertitel entscheidet, wird in knapp drei Stunden durch Shakespeares dichterisches England geleitet. Wer die deutschen Untertitel mitliest, begibt sich der Hälfte des Textes: Da fehlen ganze Sätze. Überhaupt, der Fluch der Untertitel: Es gibt kaum Besseres, vom Gegenstande abzulocken. Die Emotionen, die Empathie, das Ohr verlieren immer gegen die analytische Funktionsweise unseres Gehirns beim Lesen.
Die Klassik-Foren bergen viele Konversationen mit Klagen über die mangelnde Textdeutlichkeit heutiger Sänger. Interessanter Weise stellen nur wenige Opernfreunde die Verbindung zu falscher Gesangstechnik her. Für raumfüllenden Klang bedarf die menschliche Stimme ihres Fundaments: des aktivierten Brustregisters. (Es ist dies eine physikalische Tatsache.)
Also denn: Legte man die üblicherweise geltenden Maßstäbe an den Gesang an, überspränge einzig Peter Rose als Bottom die Latte. Mit welchem Gusto er den Pyramus verkörpert, mit welcher Lakonie er mit der Tytania der Erin Morley tändelt: Er gab Bemerkenswertes. Sonst jedoch überwogen die heute üblichen, stimmtechnischen Unzulänglichkeiten.
Was auffiel: Daß die hauseigenen Kräfte (mit Ausnahme von Rose) bessere Figur machten als die Gäste. Lawrence Zazzos Organ leidet am nun schon seit Jahrzehnten kultivierten Mißverständnis, ein Counter-Tenor — eigentlich: ein Falsettist — vermöge jenes Stimmvolumen zu bieten, welches doch bereits in der Barockzeit, als die Castrati solche Partien sangen, als unabdingbar galt. Dieses Oberons Stimme bleibt dünn und damit wenig zufriedenstellend. Ähnlich dünn und untergewichtig präsentiert sich Erin Morleys Tytania. Vor allem, wenn man ihr Szilvia Vörös’ Hippolyta oder Rachel Frenkels Hermia gegenüberstellt. Auch Valentina Naforniţa als Helena macht da stimmlich bessere Figur…
Josh Lovell als Lysander und Rafael Fingerlos (Demetrius) ergänzen das Quartett der jungen Liebenden. Peter Kellner, letzte Saison aus Graz zum Ensemble gestoßen, spielt vor allem die kleine Partie des Theseus.
Begreift man A Midsummer Night’s Dream nicht als Oper, sondern als eine Vertonung des Shakespeare-Stückes mit Musik, sieht man dem Treiben der vier (bzw. sechs) »Jungen« amüsiert zu; und ist’s zufrieden.
IV.
Die verdienteren männlichen Mitglieder des Wiener Ensembles gestalten — mit Ausnahme einer kurzen, vorbereiteten Szene im zweiten Akt — das Finale des Abends.Mit großer Spielfreude und Witz. Wolfgang Bankl (Quince), Haus-Debutant Benjamin Hulett (Flute), Thomas Ebenstein (Snout), William Thomas (Snug) und Clemens Unterreiner (Starveling) bieten Komödie vom feinsten. Und Shakespeare-Liebhaber wissen, daß diesem Autor die komischen Elemente immer wichtig waren, er ihnen auch in ernsten Stücken wie The Merchant of Venice gebührend Raum gab. Das Spiel von Pyramus und Thisby war sehr, sehr gut gearbeitet und aufgeführt — Chapeau.
V.
Kein Midsummer Night’s Dream ist vollständig ohne Puck (oder Robin): Théo Touvet, Musiker, Schauspieler, Artist, Zirkuskünstler und ebenfalls Haus-Debutant, wirbelte als Oberons Helferlein über die Szene, deklamierte manchmal zu schnell, war hier und da und überall gleichzeitig. Ein Springinsfeld. Nur: Welche Auskunft gibt uns das über diesen Abend, wenn Touvet in seiner Sprechrolle den größten Applaus erhält? Reichlich Stoff zum Nachdenken…
VI.
Simone Young war ans Pult des Staatsopernorchesters berufen worden. Sie leitete den Abend engagiert. Mit der ihr eigenen Vehemenz. Und litt gewiß ebenso unter den ungenauen Einsätzen der Kinder der Opernschule der Wiener Staatsoper bzw. den dünnen, kaum tragenden Stimmchen von Coweb, Peaseblossom, Mustardseed und Moth wie das übrige Auditorium.
VII.
Noëlle Ginefri-Corbel schuf für Irina Brooks szenische Realisierung ein naturalistisches Bühnenbild, welches die Wände eine verfallenen Palastes darstellt: mit teilweise abbröckelndem Putz und nackten Mauern und einer einem Wintergarten ähnlichen, teilweise bereits dem Rostfraß anheim gefallenen Eisenkonstruktion mit kaputten Glasfenstern dem Hintergrund zu. Vor dem Rundhorizont sieht man eine mit Gräsern und niedrigen Sträuchern bewachsene Wiese, die die verschiedensten Auf- und Abtritte ermöglicht. Ein altes Piano, efeuumrankt wie die Palastwände, und ein Diwan, der hin und her geschoben verschiedensten Zwecken dient, komplettieren die Grundausstattung. (Das erinnerte an die genialen Arbeiten eines Jean-Pierre Ponnelle.) Einzig die Handwerker aus Athen rollen ihren Thespis-Karren durch eine große, doppelflügige Holztür. (Wie kläglich nahm sich dagegen doch Damiano Michielettos und Paolo Fantins Versuch im Theater an der Wien vor 18 Monaten aus.)
Jean Kalman verteilte das Licht, hob da einen Ort hervor, tauchte da einen anderen ins Dunkel, und zauberte kaum merkliche Übergänge vom Tag zur Nacht zum Tag.
VIII.
Dieser Midsummer Night’s Dream spielt im heutigen England, auch wenn der Text die Umgebung Athens verheißt. Selbstverständlich gibt es auch kein Athener Gewand, an welchem Puck erkennen könnte, wem er das Liebeselixir in die Augen träufeln solle. Dafür stecken die vier Liebenden in College-Uniformen: Hermia und Helena kombinieren die flaschengrünen Blazer mit blaugrünen Schottenröcken, die Herren mit beigen oder grünen Chinos. Selbst die Krawatten, fixer Bestandteil und spätestens seit den Verfilmungen der Bücher J.K. Rowlings Allgemeinwissen, fehlen nicht. Auch fühlte ich mich an den Film »Dead Poets Society« (»Der Club der toten Dichter«) erinnert: »Oh Captain! My Captain!« (Doch der »Captain« ist längst schon auf dem Sprung nach Milano…)
Brook differenziert fein: Die Hermia der Rachel Frenkel ist die Bodenständige, mit rotem Rucksack und ebensolchen, knöchelhohen Doc Martens-Stiefeln. Valentina Naforniţas Helena ist die Capriziöse, mit babyrosa Designer-Handtasche und Brille. Die Herren sind mit Trekking-Rucksäcken ausgestattet. … Mit Fortdauer des Spiels, dem nächtlichen Herumirren in Oberons Reich, kommt den vieren jedoch die Contenance abhanden: Plötzlich fehlen die Blazer, die Krawatten hängen über offenen Hemd- und Blusenknöpfen auf Halbmast, die Herrschaften wirken ein bisserl derangiert. Und die Schottenröcke weisen Schmutzränder und -flecken auf. (Je einer auch an verfänglicher Stelle.)
Wer will, mag in Brooks Arbeit einige Referenzen an Harry Potter erkennen: Wenn im ersten Akt von zwei schwarzgekleideten Helferlein eine Schlange mit grünleuchtenden Augen über die Bühne geführt wird, denkt der eine oder andere vielleicht an den Voldemortschen Horcrux Nagini. Ob Pucks hündisches Verhalten Wormtails Unterwürfigkeit des "He-Who-Must-Not-be-Named" abgelinst ist? Und wenn Oberon Puck ob seiner Schusseligkeit und des angerichteten Chaos wie von Zauberhand ohrfeigt und über die Bühne schleift: Sind dann der Dark Lord und der Cruciatus-Fluch weit?
Hervorragend gearbeitet ist auch das Spiel von Pyramus und Thisby: Mit welchem Ehrgeiz da die Herren des Ensembles zu Werke gehen; wie der Quince des Wolfgang Bankl das von König Theseus erhaltene Honorar blitzschnell in der eigenen Tasche verschwinden läßt; wie die für die Kostüme zuständige Magali Castellan Plastik und Absperrbänder zu Kostümen wandelt: Welch’ Labsal für vom Anblick der üblichen Business-Anzüge, Koffer und Trenchcoats gerötete Publikumsaugen!
Die Spielleiterin instrumentiert den Kinderchor, das Staatsballett und die Statisterie gekonnt. Sie sorgt für einen kurzweiligen Ablauf mit jeder Menge szenischer Gustostückerln. Und, am wichtigsten: Sie erzählt A Midsummer Night’s Dream. Das ist heute keine gering zu schätzende Leistung.
IX.
Dieser Midsummer Night’s Dream: ein unterhaltsamer Abend. Schon gar, wenn man Interesse an Shakespeares Englisch hat, vielleicht sogar über die entsprechende Textkenntnis verfügt. Und wenn man diesen Abend nicht als Opernabend im traditionellen Sinn auffaßt.