»La clemenza di Tito«, 2. Akt: MusicAeterna und der MusicAeterna Choir of the Perm Opera in einem eingeschobenen Ausschnitt der Mozartschen Messe in c-moll, K 477 © Salzburger Festspiele/Ruth Walz

»La clemenza di Tito«, 2. Akt: MusicAeterna und der MusicAeterna Choir of the Perm Opera in einem eingeschobenen Ausschnitt der Mozartschen Messe in c-moll, K 477

© Salzburger Festspiele/Ruth Walz

Wolfgang Amadeus Mozart:
»La clemenza di Tito«

Salzburger Festspiele

Von Thomas Prochazka

Der »Klassik-Rebell« Teodor Currentzis und der seit Jahrzehnten als eines der »enfants terrible« unter den Spielvögten im Opernbetrieb gehandelte Peter Sellars stellten in der Felsenreitschule ihre Fassung von La clemenza di Tito vor. Gewißlich ein neuer Abschnitt in der Mozart-Rezeption. Und eine reizvolle Erfahrung.

II.
Festspiele laden — ähnlich dem Stagione-Betrieb — dazu ein, Ungewöhnliches auszuprobieren. Also nahmen sich Teodor Currentzis und Peter Sellars der anläßlich der Krönung Kaiser Leopold II. zum König von Böhmen entstandenen Festoper an und verstümmelten die Rezitative bis zur Unkenntlichkeit. Daß der »Rattenfänger von Perm« und sein szenischer Handlanger den Abend zum Ausgleich mit Ausschnitten aus der Messe in c-moll, K 427, dem Adagio und Fuge in c-moll, K 546, (in einer Fassung des Dirigenten) und der Maurerischen Trauermusik in c-moll, K 477, anreicherten, verschweigt das Programmheft ebenso schamhaft wie die Tatsache der Bearbeitung des Werkes an sich. Man wird gewußt haben, warum.

Also: Man bekommt heuer La clemenza di Tito in Salzburg nicht vollständig zu hören, dafür rühmt sich das Programmheft der Verwendung der neuen kritischen Mozart-Ausgabe des Bärenreiter-Verlages…

Die Streichung der meisten Rezitative mag in den Augen vieler als weise Entscheidung gelten: Erstens weiß ein Großteil des Publikums heutzutage mit Rezitativen ohnehin nichts mehr anzufangen. Denn »Festspiel« — von Markus Hinterhäuser apostrophiertes Modewort des Salzburger Theatersommers 2017 — darf vieles sein, aber eines niemals: langweilig. … Zweitens stellten die ja eigentlich die Handlung befördernden Rezitative den Spielvogt vor sein Vermögen übersteigende Herausforderungen, welche so zur Zufriedenheit des Parketts vermieden werden konnten. Und drittens erzwänge der Rezitative Darbietung eine detaillierte musikalische Gestaltung und zeitraubende Arbeit mit den Sängern, ohne daß man in jenen Augenblicken seinem sorgsam aufgebauten Namen als »Klassik-Rebell« und Pultmagier durch irrwitzig rasche und verhetzte Tempi gerecht zu werden vermochte. Der geneigte Opernfreund erkennt bereits: ob Scene oder Graben, hier gilt’s der Kunst allein.

III.
La clemenza di Tito war Nikolaus Harnoncourt Abschluß und Höhepunkt der Gattung der opera seria, oder, wie Mozart sie in sein »Verzeichnüß all meiner Werke« eintrug, »una vera opera« (also eine »richtige Oper«, im Gegensatz zu den als dramma giocoso apostrophierten Ergebnissen der Zusammenarbeit mit Lorenzo Da Ponte). Dies wohl auch, weil Harnoncourt die Rezitative als Essenz der Handlung auffaßte, die Arien und Ensembles hingegen als retardierende Momente.

Amputiert man, wie Peter Sellars und Teodor Currentzis es taten, die von Caterino Tommaso Mazzolà im Vergleich zur (Ur-)Fassung Pietro Metastasios aus 1734 ohnehin schon gestrafften Rezitative, erhalten die auskomponierten, zumeist in langsameren Tempi notierten Nummern das Übergewicht. Langeweile würd’ dann des Publikum Lohn, und die Aufführungsdauer schrumpfte auf eine nicht mehr argumentierbare Kürze. Zum Zwecke der Um- und Neudeutung des Mozartschen opus ging man also daran, des Franz Xaver Süßmayrs Arbeit durch Ausschnitte aus obengenannten Werke zu ersetzen. Und zum Abschluß des Abends boten der »Klassik-Rebell« und sein Spielvogt zusätzlich die Maurerische Trauermusik, K 477.

Daß die beiden damit Mozarts Tonartendramaturgie ad absurdum führten: — wen kümmert’s? … Daß Mozart seine Krönungsoper La clemenza di Tito nicht nur im festlichen (und darüberhinaus die »metaphysische Gerechtigkeit« symbolisierenden) C-Dur eröffnete, sondern sie auch in derselben Tonart schloß, darüberhinaus in beiden Nummern dasselbe Themenmaterial verwendete, solcherart dem Werk eine zusätzliche Klammer gebend: Details… Lästige Details…

»La clemenza di Tito«, 1. Akt: Vitellia (Golda Schultz), Servilia (Christina Gansch), Sesto (Marianne Crebassa) und Annio (Jeanine de Bique) mit Tito (Russell Thomas) © Salzburger Festspiele/Ruth Walz

»La clemenza di Tito«, 1. Akt: Vitellia (Golda Schultz), Servilia (Christina Gansch), Sesto (Marianne Crebassa) und Annio (Jeanine de Bique) mit Tito (Russell Thomas)

© Salzburger Festspiele/Ruth Walz

IV.
Die Maurerische Trauermusik? Ja, denn in des Spielvogt Fassung endet die Oper mit Titos Tod: Letzerer erliegt seinen beim von Sesto verübten Attentat erlittenen Verletzungen.

Nach Peter Sellars Willen beginnt die Oper in einem Flüchtlingslager: Dort wählt Tito (während der Ouverture) die Flüchtlinge (und Geschwister) Sesto und Servilia aus, »die er persönlich in seinem Reich willkommen heißen und auf ihrem Weg in ein neues Leben begleiten will« (so der Spielvogt im Programmheft). … Ein möglicher, allerdings nirgendwo verifizierter »Einfall«, wonach die Sänger des Tito, der Vitellia, des Annio und des Publio — also der Herrschenden — von dunkler Hautfarbe sind, die Flüchtlinge Sesto und Servilia jedoch von heller, muß einem Toleranz lebenden, internationalen Publikum gegenüber verpuffen. Denn für dieses zählen stimmliche und darstellerische Gestaltung der jeweiligen Partien, nicht aber Hautfarbe oder Rasse.

Offen blieb auch die Frage nach dem Zweck des Abends. Wollte der Spielvogt uns mitteilen, daß Fremdem (Servilia und Sesto), wenn es sich, aufgenommen, gewalttätig wider die Gesellschaftsordnung des Gastlandes (Tito) stellt, Gnade gewährt werden muß, da die Ursachen (Vitellia) für die Gewalttätigkeit im Heute oder der Geschichte des Gastlandes zu suchen sind?

Wie viele Spielvögte vor ihm begnügte sich Sellars mit einer minimalistischen Bühnengestaltung (George Tsyprin, Licht: James F. Ingalls), wußte mit dem Raum der Felsenreitschule nichts Rechtes zu beginnen. … Man komme mir nun nicht mit dem Argument, Rücksicht auf die Co-Financiers, die Deutsche Oper Berlin und die Dutch National Opera, Amsterdam, hätten eine adäquate scenische Umsetzung verhindert: Bei den in Salzburg verlangten Kartenpreisen darf das Publikum eine der Spielstätte Felsenreitschule gerecht werdende Scene erwarten.

Ceterum censeo: Wieder einmal blieb die Möglichkeit ungenützt, diesen einzigartigen Raum mit seinen Arkaden intelligent zu bespielen. Genoß eine versuchte Aktualisierung des doch ohnehin ewig gültigen Prinzips der Macht und seiner Ausübung Vorrang gegenüber dem genauen, von Wissen getragenen Blick in die Partitur.

Des Kaisers neue Kleider…

V.
Die Macht und ihre Ausübung: das wohl zentrale Thema von La clemenza di Tito. Jedoch: Verweigert Tito nicht die Ausübung der ihm kraft seines Amtes verliehenen Macht? Wäre es nicht zentrale Aufgabe eines Herrschenden, die Einhaltung geltender Gesetze durchzusetzen? Besteht denn nicht andernfalls die Gefahr heraufdämmernden Chaos’? All die Kommissionen, Arbeitsgruppen und nicht getroffenen Entscheidungen, welche unsere »Demokratie« genannten Staatsgebilde zu beherrschen scheinen: Sind sie nicht Ausdruck jener Tito gleichen Verweigerung der Machtausübung? Und: Sind denn nicht eigentlich diese vacua Ursache vieler Fehlentwicklungen der letzten Jahre, des Emporkommens unsäglicher Strömungen in Ost und West? Lohnte nicht ein unverstellter Blick darauf?

Anstelle dessen: Mazzolàs Text und Mozarts Tonsprache decouvrierten des Spielvogt zusammen­geschusterte Absichten von den Überbleibseln des ersten Rezitativs an.

»La clemenza di Tito«, 2. Akt: Sesto (Marianne Crebassa) mit dem im Intensivbett liegenden Tito (Russell Thomas): die schöne neue Opernwelt des Peter Sellars © Salzburger Festspiele/Ruth Walz

»La clemenza di Tito«, 2. Akt: Sesto (Marianne Crebassa) mit dem im Intensivbett liegenden Tito (Russell Thomas): die schöne neue Opernwelt des Peter Sellars

© Salzburger Festspiele/Ruth Walz

VI.
Nun aber: Wie war es um die musikalische Seite des Abends bestellt?

Da saß ich, im Hermann Bahrschen Sinn mit den besten Absichten wider die Ausführenden — und kann doch nicht umhin zu berichten, daß auch die musikalische Seite des Abends von den scenischen und musiktheoretischen Ärgernissen nicht abzulocken vermochte: Mit Ausnahme des Annio der Jeanine de Bique verfügte keiner der Sänger über die für eine aus der Musik gestaltete Interpretation unerläßlichen stimmlichen Mittel. Wenn der Spielvogt im Terrassen-Talk eine Parallele darin zu entdecken glaubte, daß Gerard Mortiers Salzburger Tenure 1992 ebenfalls mit La clemenza di Tito eröffnet worden war, darf man überzeugt einwenden, daß keiner der gestern tätigen Sänger seinerzeit auch nur als Cover in Frage gekommen worden wäre.

VII.
Russell Thomas ging als Tito mit rauher Stimme zu Werke und sang sich bar jedes legato-Vermögens durch den Abend. Kaum eine Phrase ward da gestaltet; — es galt der Töneproduktion allein. Daß Thomas kein intensiver Darsteller war, mag ich ihm in einer opera seria nicht zum Vorwurf zu machen. Daß er sich nicht in die Lage versetzt sah, Titos Arien musikalisch interessant und abwechslungsreich zu gestalten, schon. Schließlich: Daß Thomas als Tito in des Spielvogt unsäglicher Deutung am Ende (in C-Dur) seinen bei Sestos Attentatsversuch erlittenen Verletzungen erlag (anstelle, wie im Text gesungen, sich des Wohlergehen Roms annehmen zu wollen): nur ein weiteres eines an Mißverständnissen nicht eben armen Abends.

Musikalisch muß von Willard White als Publio Ähnliches berichtet werden: Whites Stimme, obschon Currentzis und Sellars die Rezitative zum großen Teil gestrichen hatten, präsentierte sich so ausgesungen, grob und fahl wie jene eines selbst altgedienten Publio auf einer Festspielbühne nicht klingen sollte.

Leider standen die Dinge bei den Damen nicht besser. Überraschend in diesem Zusammenhang, daß allen Probleme im tiefen Register eignete. Jeanine de Bique hinterließ als Annio mit gutem Stimmsitz und dem Willen zum legato den zweitbesten Eindruck. Christina Gansch vermochte an die günstige Erinnerung, welche in mir von ihrer Barbarina im März 2014 im Theater an der Wien noch lebte, nicht anzuschließen. Wie unvorteilhaft, daß Currentzis und Sellars sie dazu nötigten, über ihre Partie hinaus auch noch das »Laudamus te« aus der Messe in c-moll singen zu lassen: Da war der Offenbarungseid zu leisten: mit unsauberen Coloraturen, unsicherem Stimmsitz und offenen Höhen.

Auch Marianne Crebassa als Sesto erreichte in keinem Augenblick festspielwürdiges Niveau, mochte ihr Spiel noch so engagiert sein. Zwar trug ihre Stimme in der Mittellage und in der Höhe, doch ohne Beherrschung der Kunst des legato gibt es keine Brechung desselben, muß der musikalische Vortrag notgedrungen eindimensional bleiben. Warum sich Crebassa bei »Parto, ma tu ben mio« mit dem Klarinettisten Florian Schüle am Boden wälzen mußte, während der Instrumentalist ihren Vortrag begleitete: — eines der vielen Rätsel dieser Produktion.

Vitellia, die Verführerin, Anstifterin und mehrfache Mörderin, war Golda Schultz anvertraut. Weit davon entfernt, der Sophie des letzten Salzburger Rosenkavalier Bemühen um die Sache abzusprechen, kann ich doch nicht schweigen über das, was ich hörte — oder vielmehr nicht hörte: Denn auch Schultz offenbarte Schwächen im tiefen Register, diesfalls bereits zu vernehmen in Vitellias erster Arie »Deh se piacer mi vuoi« und dem sich daran anschließenden Allegro-Teil »Chi ciecamente crede«. In »Non pìu di fiori« schließlich verlangt Mozart seiner prima donna sogar wiederholt tiefe a und sogar ein tiefes g ab, läßt sie dasselbe Thema zuerst im 3/8- und im Finale der Scena im 4/4-Takt singen: — keine Kleinigkeiten, gewiß. Leider bot Schultz auch da vielfach nur resonanzlose, gesprochene Töne, verschliffene Coloraturen, ungedeckte Höhen, ausgestellte Spitzentöne…

Nehmt nur, alles in allem: Das Young Singers Project auf der Festspielbühne.

VIII.
Der musicAeterna Choir of the Perm Opera (Einstudierung: Vitali Polonsky), in La clemenza di Tito nicht über Gebühr beschäftigt, durfte in der Felsenreitschule ungezählte Male hin und wider laufen, einmal römisches Volk, dann wieder Flüchtlinge vorstellen und seinen Einsatz durch Teilnahme an den Ausschnitten der zusätzlichen Mozart-Werke rechtfertigen. Das »Kyrie« aus der c-moll-Messe geriet nach des Spielvogt Willen zur musikalischen Bewegungstherapie… Jazz-Tanz für Arme. Stimmlich hinterließ der Chor allerdings einen sehr guten Eindruck.

»La clemenza di Tito«, 2. Akt: Sesto (Marianne Crebassa) mit dem im Intensivbett liegenden Tito (Russell Thomas): die schöne neue Opernwelt des Peter Sellars © Salzburger Festspiele/Ruth Walz

»La clemenza di Tito«, 2. Akt: Sesto (Marianne Crebassa) mit dem im Intensivbett liegenden Tito (Russell Thomas): die schöne neue Opernwelt des Peter Sellars

© Salzburger Festspiele/Ruth Walz

IX.
Und der »Klassik-Rebell«? Der tat, was alle Rebellen tun: Er bürstete Mozarts Musik gegen den Strich. Teodor Currentzis am Pult »seines« Ensembles musicAeterna of the Perm Opera erweiterte das Orchesterinstrumentarium um eine von Mozart nirgendwo vorgeschriebene Laute und eine Barockgitarre, die zwar hübsche rhythmische Effekte zu erzielen wußten, dem Abend aber keine günstige Wendung zu geben vermochten. Und im übrigen: kritische neue Mozart-Ausgabe!

Das Ensemble musicAeterna of the Perm Opera: ein weiteres Originalklang-Ensemble, mit alten Posaunen und Hörnern, hölzernen Flöten und all jenen Problemen, welche Ensembles dieser Art plagen: harte Intonationen, zum Teil Unsicherheiten im Zusammenspiel zwischen Holz, Blech und den überwiegend um Stehen spielenden Streichern.

X.
Um jeden Preis es anders zu machen als alle anderen, bloß jeder Vergleichbarkeit sich entziehen, das schien des Abends geheimes Motto: Currentzis ermunterte seine Sänger zu unzähligen fiorituri, wo man’s doch schon einer sorgfältigen Interpretation des notierten Notentextes völlig zufrieden gewesen wäre, dehnte Pausen auch ohne Fermatenzeichen, solcherart den musikalischen Fluß wiederholt (und wissentlich?) brechend. … Zugegeben, es war nicht ohne Reiz zu beobachten, zu welchen Kunstgriffen der Dirigent Zuflucht nahm zwecks Cachierung der stimmtechnischen Unzulänglichkeiten seiner Sänger. Aber ob dies der Sinn von Festspielen ist?

Überraschend, doch keineswegs überzeugend denn auch Currentzis’ Tempo-Dramaturgie: Bereits die Ouverture wartete mit unzähligen Brüchen und Temporückungen auf, welche nicht einmal in Unkenntnis der Begriffe »Agogik« und rubato zu entschuldigen wären. … Andante stand da neben Allegro, und beides ward gleich schnell exequirt. Zwei Partiturseiten weiter verlangsamte der Dirigent plötzlich mitten in einem Andantino, ohne daß aus dem Notentext irgendeine Berechtigung dafür abzuleiten gewesen wäre. Dynamische Vortragszeichen wie piano und forte: — offensichtlich unverbindliche Hinweise der Herausgeber, denn so viele Fehler kann selbst eine kritische Ausgabe nicht enthalten. So stolperte man munter den ganzen Abend lang durch die Partitur. Gewiß im Bewußtsein, Großes zu schaffen: — dabei zelebrierte man nur seine Exaltiertheit.

Auch hier: des Kaisers neue Kleider.

XI.
Man bringe zwei tunicae. Es dauert einen, den »Klassik-Rebell« und seinen Spielvogt so entblößt zu sehen.

47 ms