Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker im leeren Goldenen Saal des Wiener Musikvereins bei der Aufnahme der 1. Symphonie von Anton Bruckner © Wiener Philharmoniker/Terry Linke

Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker im leeren Goldenen Saal des Wiener Musikvereins bei der Aufnahme der 1. Symphonie von Anton Bruckner

© Wiener Philharmoniker/Terry Linke

Christian Thielemann:
Bruckner mit den Wiener Philharmonikern (I)

Musikverein Wien

Von Thomas Prochazka

Eigentlich — eigentlich sollte dieses Wochenende frei sein von philharmonischen Diensten. Doch dann kam das Zusammentreffen von John Williams mit den Wiener Philharmonikern. Dessen Erfolg machte Lust auf eine Zweitbegegnung — bis »Sie wissen eh« die Pläne durchkreuzte…

II.
Ende November ließ John Williams das Orchester wissen, daß er auf Grund der aktuellen Situation nicht nach Europa kommen könne. Zur selben Zeit probte Christian Thielemann in Wien Anton Bruckners 3. Symphonie. Kurzentschlossen verständigte man sich darauf, anstelle der Konzerte mit John Williams die Einspielung der Bruckner-Symphonien fortzusetzen. So fanden an diesem Wochenende im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins die Aufnahmen der Symphonie Nr. 1 in c-moll statt. Vor Kameras und, am Sonntagvormittag, vor einigen Pressevertretern.

III.
Dieser Bruckner-Zyklus mit Christian Thielemann wird der erste vollständige der Wiener Philharmoniker mit einem Dirigenten. Für die 1. Symphonie wählte Thielemann die »Wiener« Fassung. Das Erstaufführungsmaterial vom Dezember 1891 (unter Hans Richter) sowie eine Partitur mit handschriftlichen Eintragungen Bruckners befindet sich in Wien und wurde während der Proben des öfteren konsultiert. Wie Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer betonte, finden sich im Erstaufführungsmaterial beispielsweise keine Eintragungen für die Bogenstriche: »Man hat sich damals viel mehr am Konzertmeister orientiert.«

Bruckners Symphonie Nr. 1 in c-moll gehört nicht zu den Lieblingsstücken vieler Dirigenten. Auch im Konzertarchiv der Wiener Philharmoniker sind nur wenige Aufführungen verzeichnet: 1891 unter Hans Richter, in den 1920-er Jahren unter Franz Schalk, ab 1972 mit Claudio Abbado und Riccardo Muti (die Linzer Fassung bei den Salzburger Festspielen 1979) und, 2018, Aufführungen mit Christoph Eschenbach in St Florian.

IV.
Der derzeitige »Luxus« weniger Dienste erlaubte sechs anstelle der sonst üblichen vier Proben. Sowohl Daniel Froschauer als auch Geschäftsführer Michael Bladerer betonten vor der Aufführung, daß diese Symphonie technisch extrem schwierig sei, z.B. mit den Sextolen und »den Vorschlägen der Vorschläge der Vorschläge«: »Das muß man richtig üben.« — Nun, man hatte geübt. (Das sei vorweggenommen.)

Der Philharmoniker-Vorstand unterstrich noch einmal, was alle, die Christian Thielemanns Karriere seit längerem verfolgen, bereits wußten: Daß der gebürtige Berliner die Interpretationen der von ihm dirigerten Werke von ihren Höhepunkten her aufbaut; die dynamischen Vorgaben dazu in Relation setzt. Man bei ihm lernt, wie die Komponisten ihre Werke strukturierten. Bei Bruckners 1. Symphonie bedeutet das, an den lauten Stellen der ersten drei Sätze immer wieder abzudämpfen, damit das forte-fortissimo im vierten Satz strahlend zur Geltung kommt.

V.
Nach der Theorie folgte die Praxis: Da die geplanten Konzerte in den großen Kathedralen ebenfalls »Sie wissen eh« zum Opfer fielen, wich man in den Goldenen Saal aus. Dunkelte diesen für die Aufnahmen fast vollständig ab, mit Ausnahme des Podiums und der in orangefarbenem Licht von unten angestrahlten Karyatiden. Lenkte so die Aufmerksamkeit auf Dirigent und Orchester.

VI.
Es waren spannende 50 Minuten; ein großer Bogen vom einleitenden pianissimo bis zum beschließenden C-Dur. Wuchtig verklang der Kopfsatz mit den fordernden Streicher­passagen; hallte nach im leeren Saal… Kathedrale. Thielemann nahm das Adagio nicht zu langsam. (Wie warm doch so ein »Wiener Horn« klingen kann!) Da gab es keine Durchhänger, da fiel nichts auseinander. Das großangelegte Scherzo: vielleicht der zentrale Satz dieser Symphonie mit seinen g-moll/G-Dur-Wechseln. »Bewegt, feurig« notierte Bruckner für das Finale, das im dreifachen forte seinen Höhepunkt findet.

Diese Aufführung: die Instrumentengruppen fein abgestimmt, doch kräftig, dabei immer durchhörbar. Nicht so kompakt wie Eugen Jochums Lesart mit der Staatskapelle Dresden, nicht so »italienisch« wie Riccardo Muti seinerzeit in Salzburg.
Nach dem Verhallen des letzten Akkords: zustimmendes Nicken im Auditorium.

Zu hören und zu sehen am 7. März 2021 um 11:00 Uhr auf fidelio und am 14. März 2021 um 11:03 Uhr im Programm Ö1. Der Mitschnitt der 3. Symphonie von Anton Bruckner wird am 14. März 2021 um 20:15 Uhr auf ORF III ausgestrahlt.

Eine Nachbemerkung: Vorstand Daniel Froschauer und Geschäftsführer Michael Bladerer beklagten vor allem die mangelnde Perspektive und die nach wie vor herrschende Planungsunsicherheit. Der Frust über geschlossene Konzertsäle und Opernhäuser ist hoch. Die Einnahmen des Vereins der Wiener Philharmoniker verringerten sich in den letzten 12 Monaten um 80 %. Ohne Streaming-Sponsoren werden die für März vorgesehenen Konzerte mit Daniel Barenboim und Àdam Fischer daher ebenso abgesagt werden müssen wie die für das nächste Wochenende angesetzten Konzerte mit Gustavo Dudamel: »Wir können als Leitung des Vereins nicht verantworten, daß unsere Kollegen auch noch dafür zahlen, daß sie spielen.«

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