Pieter Bruegel d. Ä. (um 1525/30 – 1569 Brüssel): »Avaritia«, 1558 (Ausschnitt). Kupferstich, 22,5 × 29,5 cm. Brüssel, Bibliothèque Royale, Cabinet Estampes Public Domain

Pieter Bruegel d. Ä. (um 1525/30 – 1569 Brüssel): »Avaritia«, 1558 (Ausschnitt). Kupferstich, 22,5 × 29,5 cm. Brüssel, Bibliothèque Royale, Cabinet Estampes

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Gier

Von Thomas Prochazka

Eine Tragödie (nach Thomas Bernhard).

Von der Minoritenkirche schlug es drei Uhr, als ich mich, die Straßenbahn vor dem Burg­theater verlassend und mit diesem ekelig angefeuchteten und jeden tieferen Atemzug verhindernden Mundnasenschutz vor dem Gesicht, die eine fachfremden und also in der Sache inkompetenten Einflüsterern Glauben schenkende Regierung dem österreichischen Volk aufzuzwingen sich erdreistete, in Richtung Café Landtmann wandte. Wochenlang war man mit einem in jedem zivilisierten Land der Welt selbstverständlichen Abstand zu Fremden sehr gut ohne diese Schwachsinnigkeit, diese allergrößte Schwachsinnigkeit überhaupt, wie ich bemerken muß, ausgekommen, ehe eine überforderte Regierung mit dieser Maßnahme von ihrer völligen Ahnungslosigkeit davon ablenken wollte, daß sie dieses Österreich grundlos in die tiefste wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise seit dem zweiten Weltkrieg gestürzt hatte, berichtete Atzbacher.

Reger hatte mich durch seine Haushälterin telephonisch ins Landtmann bestellen lassen, er habe mir für mich Wichtiges mitzuteilen über die Kultur in Österreich, welche doch, wie die Haushälterin extra betont hatte, schon lange nur mehr eine Unkultur sei, wie Reger gesagt haben soll, und dieses Land schon lange nicht mehr jene Kulturnation, für die es sich halte, denn naturgemäß hätten die Mächtigen in diesem Staat, vielfach bereits Produkte einer kompetenz­orientierten Ausbildung, die doch immer nur eine inkompetente sei, die inkompetenteste überhaupt, die man sich vorstellen könne, anstatt Bildung erfahren zu haben schon längst jedes Interesse an Kunst und Kultur verloren, wären mit dem, was man früher unter dem Begriff Humanismus verstand, niemals mehr in Berührung gekommen.

Nachdem wir einander begrüßt hatten, bestellte ich eine Esterházy-Torte und einen großen Mokka. Das übliche, Herr Leopold, verlangte Reger, und schon bald wurde auch ihm ein großer Mokka serviert, samt einem Pignolikipferl, das er, ohne es zu berühren, sogleich in die Mitte des Tisches schob. Ich habe Sie hierhergebeten, begann Reger, weil ich Ihnen von der Gier und der Dummheit reden muß, die dieses Land so fest im Griff haben, daß es mich schmerzt, in der Früh aufzuwachen. Eigentlich wäre ja heute Ambassador-Tag, setzte er fort, aber in diesen verrückten Zeiten ist es eine Unmöglichkeit, ins Ambassador zu gehen. Es ist für mich geradezu ausgeschlossen, ins Ambassador zu gehen, wenn ich nicht zuvor im Kunsthistorischen Museum gewesen bin, sagte Reger, mich nicht für Stunden in die Betrachtung von Het Pelsken vertiefen konnte. Wenn man nicht stundenlang, wie die Leute sagen, Het Pelsken analysiert hat, wird jeder Ambassador-Besuch zur größten denkbaren Unmöglichkeit. Ohne die unerläßliche Het Pelsken-Betrachtung ist ein Besuch im Ambassador naturgemäß gar nicht vorstellbar, unter keinen Umständen. Doch das Kunst­historische Museum ist ja dank des vorauseilenden Weitblicks und den Anmaßungen unserer Regierung geschlossen, ebenso wie das Burgtheater geschlossen ist, wie wir von unserem Tisch aus sehen können.

Nicht, daß mir ein Besuch des Burgtheaters abginge, so Reger weiter, die letzte Vorstellung, die ich in diesem Haus sah, war Kleists Der zerbrochene Krug, und die Vorstellung war entsetzlich. Aber es gibt Leute, die das Burgtheater mehrmals in der Woche besuchen müssen, gleichgültig wie schlecht die Vorstellungen sind, die an einem sogenannten Burgtheaterbesuchszwang leiden wie für mich der fortgesetzte Besuch des Kunsthistorischen Museums eine Lebensnotwendigkeit ist, eine Über­lebens­notwendigkeit sogar. Die Vorstellungen müssen gespielt und folglich auch besucht werden, der eine Zwang bedingt den anderen, Burgtheater hin oder her. Es gibt ja auch den Josefstadt­theater­besuchs­zwang, doch ist der Burgtheater­besuchs­zwang naturgemäß viel stärker ausgeprägt, galt doch niemals die Josefstadt, aber immer das Burgtheater nicht nur als erste Bühne des Landes, sondern des gesamten deutschen Sprachraumes, weshalb jeder Burgtheaterdirektor seine Stücke und seine Schauspieler an dieses Haus mitbringt im Glauben an den Fortbestand dieser Tradition, die doch längst nur mehr eine Chimäre ist, seit Jahrzehnten schon.

Wenn Sie heute gutes Theater sehen wollen, müssen Sie nach London oder Paris fahren, aber doch nicht ins Burgtheater gehen oder in die Josefstadt! Wenn Sie erfahren wollen, wie große Schauspielkunst ein Publikum zu fesseln vermag, müssen Sie die Comédie Française besuchen. Dort stehen noch Schauspieler auf der Bühne, Könner ihres Fachs, keine Schreihälse. In die Comédie Française können Sie bedenkenlos gehen, egal ob man Shakespeare, Bernhard, Racine oder Hugo gibt. In der Comédie Française wissen die Schauspieler ihr Publikum noch mit der Stimme zu verführen, französisch abgeschmackte Bühnenbilder hin oder her. In der Comédie Française verstehen Sie jedes Wort, erschließt sich Ihnen jedes Stück, selbst wenn Sie des Französischen kaum mächtig sind.

Am Burgtheater hingegen stehen seit Jahren nur mehr in dunklen Einheits­bühnen­bildern umher­irrende Schauspieler in häßlichen, nichtssagenden Kostümen auf der Bühne. Stünde nicht der Titel des Stücks auf der Eintrittskarte, man wüßte gar nicht, was gegeben wird, denn am Burgtheater werden die Werke nur mehr noch in Bearbeitungen gespielt. Selbst das letzte in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommene Stück des Burgtheaters war so schlecht gearbeitet, so dilettantisch, daß jeder am Theater interessierte Österreicher nach dem ersten Akt wußte, wie es enden würde. Und es spielte zum Großteil auch nicht auf dem Theater, sondern im Gerichtssaal und den Blättern, die dieses Volk, längst schon jedem noch lange nicht als investigativen zu bezeich­nenden Journalismus entwöhnt, täglich konsumiert im Glauben, es handle sich dabei um Tageszeitungen. Aber Tageszeitungen, die diesen Namen verdienen, lassen sich nicht mit zwei Euro pro gedrucktem Exemplar fördern und von den Mächtigen in diesem moralisch verwahrlosten Staat die Nachrichten des nächsten Tages diktieren. In keiner ernstzunehmenden Demokratie dieser Welt ist die Herausgabe von kostenlosen Druckwerken bei gleichzeitiger staatlicher Förderung mit Steuergeldern ein funktionierendes Geschäfts­modell. Doch ausgenommen die Pressekonferenzen dieser Regierung, welche mehr und mehr Verlaut­barungs­veran­staltungen nach kommunistischem Vorbild ähneln, gibt es in Österreich derzeit kein Theater, ohne das der unter­haltungs­süchtige Österreicher ja bis heute nicht lebensfähig ist, wie mir scheint. Diese über das Niveau von Kreuzerkomödien nicht hinausreichenden Veranstaltungen sind so armselig, die in den die Bildung, den Fremdenverkehr und die Kunst und Kultur betreffenden Presse­konferenzen hinterlassenen Eindrücke einer an Kunst und Kultur völlig desinteressierten Regierung so erbärmlich, daß sie von jedem ernstzunehmenden Theater­kritiker in Grund und Boden geschrieben werden müßten. Doch die großen Medien in diesem Land machen sich um den Preis einer Sonderförderung gemein mit den Mächtigen, mit der bedingungs­losen Verbreitung der öffentlichen Communiqués dieser überforderten und ein Positionspapier nicht von einer wissenschaftlichen Studie unterscheiden könnenden obersten Repräsentanten, das ist die beschämende Wahrheit, sagte Reger.

So durfte der Bundeskanzler im öffentlich-recht­lichen Fernsehen mit den Worten bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist die Angst in der Bevölkerung schüren, seine Macht absichern, ohne daß es für diese Aussage auch nur die geringste wissenschaftlich fundierte Grundlage gab. Für jeden Epidemio­logen, der für die aller­­strengsten Beschrän­kungen plädiert, finden Sie zwei andere, ebenso renommierte, die das Gegenteil verteidigen. Für jeden Verfechter der Isolation drängen sich drei in das Schein­werfer­licht, die vor den psychischen und physischen Folgen warnen. Manchen fordern eine weltweite, verpflichtende Impfpflicht und berufen sich dabei auf die Welt­gesund­heits­organisation, eine private und, wie mir scheint, niemandem Rechenschaft schuldige Organisation und dem Vernehmen nach zu 80 % von Pharmafirmen gesponsert. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt. Dabei ist die Wahrheit eine einfache, die einfachste überhaupt: Wir wissen es nicht. Doch die österreichische Regierung hört nur auf ihre Einflüsterer, auch wenn deren vor­ge­schlagene Maßnahmen verfassungs­widrig zu sein scheinen. Der jüngste Bundeskanzler aller Zeiten, wie immer gesagt wird, trat in geradezu beschämender Manier als Angstmacher auf zu einer Zeit, als diese Bundesregierung, für deren teilweises Agieren die Bezeichnung glücklos eine Beschönigung darstellte, bereits wußte, daß keine zusätzlichen Maßnahmen mehr erforderlich sein würden, im Gegenteil. Jeder auch nur halbwegs informierte Bürger in diesem Land kratzte sich am Kopf und überlegte, ob dieser jüngste Bundeskanzler aller Zeiten weiß, daß auch die gewöhnliche Erkältung, wie man lesen kann, ein vollwertiges Mitglied der Corona-Viren-Familie ist. Doch in diesem moralisch verwahrlosten Österreich läßt man dem Bundes­kanzler diese unverant­wortliche und ganz und gar nicht dem Bild eines Staatsmannes entsprechende Angst­macherei ebenso unwider­sprochen durchgehen wie seine Aussage, es sei ihm gleichgültig, ob die von dieser, seiner Regierung eilig zusammengeschusterten, nach ostösterreichischer Balkanmentalität viel zu kompli­ziert abgefaßten und verfassungsrechtlich garantierte Grundrechte mit Füßen tretende Rechtsnormen zur Eindämmung dieser Pandemie, die doch vor allem eine der geistigen Zurück­geblieben­heit ist, der Dummheit und der Borniert­heit und der Gier, gesetzwidrig seien oder nicht, denn zum Zeitpunkt der Prüfung durch den Verfassungsgerichtshof würden sie schon längst nicht mehr in Kraft sein. In jedem Rechtsstaat, der etwas auf sich hält und über eine diesen Namen verdienende Opposition sowie eine unabhängige Presse verfügte, hätte eine solche Aussage einen tagelang währenden Sturm der Entrüstung hervorgebracht. In Österreich nicht.

Nein, nein, schüttelte Reger den Kopf, die zwei großen, die Welt wirklich bedrohenden Pandemien sind die Dummheit und die Gier. Und naturgemäß ist die zweite ohne die erste gar nicht denkbar, denn immer schon galten den Mächtigen die Denkenden als die Gefährlichen, nicht die Halbwissenden und Halbgebildeten, wie Goethe behauptete. Der Vize­kanzler scheint sich wie sein Vorvor­gänger nur für die Sportagenden zu interessieren. Es ist kaum zu fassen, daß dieser über seine eigene, für das ganze Land weithin sichtbare Dummheit gestolperte Vorvor­gänger, der sich jahrelang geschmeidig als Vertreter des rechtschaffenen kleinen Mannes inszenierte, während er sich gleichzeitig aus der durch Spenden und staatlicher Unterstützung gefüllten Parteikasse neben einem für die meisten seiner Wähler unvorstellbar hohen Gehalt einen monatlichen Mietzuschuß in der Höhe von mehreren tausend Euro auszahlen ließ, doch tatsächlich glaubt, genügend Dumme zu finden, die ihm durch eine Wiederwahl weiterhin ein luxuriöses Leben auf Kosten der Allgemeinheit verschaffen. Wenn das passiert, sind die Österreicher, im speziellen Fall die Wiener, noch viel dümmer als ich denke. Und daß diese Bewegung von Mitläufern ihren Namen erst kürzlich änderte, um nicht als Dümmste Anzunehmende Österreicher auf den Wahlzetteln aufscheinen zu müssen, ist ja schon eine Pointe für sich! Während also Kunst und Kultur wochenlang kaum Erwähnung fanden, bis die glücklos agierende Kulturstaatssekretärin, wie in den Medien zu lesen stand, nach einigen öffentlichen, aber wohl auch einigen intern getanenen Aussagen ihren Hut nahm, machte der Vizekanzler die Sportagenden zu seiner Priorität und erhob keine Einwände dagegen, die Meisterschaft der obersten Spielklasse der österreichischen Bundesliga zu Ende spielen zu lassen. Schulsportveranstaltungen, so dieser Sportminister in Übereinstimmung mit dem für die Bildung, Verzeihung, die kompetenz­orientierte Ausbildung zuständigen Ressort-Kollegen, könne man jedoch leider nicht gestatten, das Risiko einer Ansteckung sei entschieden zu groß. Was dieser Sportminister und Vizekanzler nicht sagte, war, daß den Schulsportveranstaltungen fehlt, was der Bundesliga eignet: die für eine Fernseh­übertragung von Geisterspielen zu ent­richtenden Millionen, nach denen die Funktionäre gieren, um ihre manchmal sogar konkursreifen und abgewirt­schafteten Fußballklubs vor dem Untergang zu bewahren. So trägt man, die Gier befriedigend, Spiele auf Amateur-Niveau vor leeren Rängen aus, koste es, was es wolle.

Wir sehen einen Wald, sagte Reger und trank seinen Mokka, wir sehen einen Wald und denken, dieser Wald sei immer schon dagewesen. Dabei war dieser Wald vor zwei Jahren ein anderer als jener, den wir heute sehen. Doch das verdrängen wir ebenso wie wir verdrängen, daß Unternehmen aufsteigen und wieder vergehen, sobald sie ihren Nutzen für die Gesellschaft erfüllt haben oder von ihren millionen- und milliardenschweren Eigentümern mit einem Federstrich in die Insolvenz geschickt werden, ohne daß jene eigenes Vermögen zuschießen oder ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Nicht nur in diesem Österreich, das sich immer eine viel größere Bedeutung zumißt, als ihm zukommt, sieht ein infantil stundenlang auf seinen Mobiltelefonen herumwischendes und sich darob als wichtig empfindendes Volk seit Jahren tatenlos zu, wie die Mächtigen ihre Gewinne privatisieren und ihre Verluste von der Öffentlichkeit tragen lassen mit der Drohung, die Mitarbeiter ihrer Unternehmen in die Arbeitslosigkeit zu treten. Aber die Volksvertreter, wie sie sich nennen lassen, obwohl sie doch immer nur die eigene Klientel vertreten, lassen sich erpressen, anstatt mit aller Schärfe der Gesetze nach möglichen Verfehlungen dieser Schön­wetter­kapitäne zu fahnden und sie schonungslos zur Verantwortung zu ziehen. Wenn ein Vorstand oder Aufsichtsrat eines börsen­notierten Unternehmens öffentliche Förderungen beansprucht und gleichzeitig Divid­enden und Bonuszahlungen vornehmen will, wäre es die Pflicht der Regierenden, dieser Frechheit, dieser willkürlichen Neu­definition des Begriffes Kapitalismus energisch entgegen­zutreten. Die Großgrund­besitzer und die Reichen führen nicht nur die Öster­reicher seit Jahren an der Nase herum und reden ihnen ein, sie seien von drohenden Erbschafts­steuern betroffen, wo doch die meisten Häuser schon wieder abbruchreif und nichts mehr wert sind, ehe noch die letzte Kreditrate beglichen wurde. Aber jedes Volk verdient die Regierungen, die es sich wählt. Die ganze Erbärm­lichkeit dieses nur in den Lippen­bekenntnissen und Sonntags­reden der Regierenden bei der Kultur in der Weltliga mitspielenden Österreich wird ja schon darin deutlich, daß den ob der Schließung der Theater, Ausstellungshallen, Konzertsälen und Opernbühnen zur Erwerbslosigkeit verdammten Kultur­schaffenden, wie immer gesagt wird, die Gleich­behandlung mit allen anderen Selbständigen vorenthalten wird.

Jede und jeder stellt sich an und will Geld von diesem Staat, dem man es sonst durch Schwarz­arbeit entzieht, im Irrglauben, es wäre nicht das seine und die Minister und Staats­sekretäre beglichen aus ihren Taschen, was sie dem Volk zur Minderung der empfundenen Not vollmundig versprechen. Selbst jene Boutiquen-Besitzer und Nagel­studio­betreiber, welche Gewinn und Umsatz nicht zu unterscheiden vermögen, stellen sich an. Dabei wäre es für die österreichische Volkswirtschaft von allergrößtem Wert, von unschätzbarem Vorteil sogar, wenn die Leute das Geld anstatt in falsche Fingernägel in richtige Bildung investierten, sagte Reger. Auch die Kunstschaffenden stellen sich an, um weiterhin ausgehalten zu werden, dabei sind die meisten von ihnen, falls überhaupt, naturgemäß doch nur mittelmäßige Kunstfabrikanten. Frei­schaffende Opern­sänger, die an einem Abend mehr verdienen als ihre Ensemble-Kollegen in einem Monat, entdecken plötzlich die Vorteile eines geregelten Angestellten­verhältnisses, ohne dessen Pflichten selbst­verständlich. Darauf angesprochen, ziehen sie sich auf die Position der Fürsprecher für ihre jungen Kollegen ohne Engagement zurück. Junge Kollegen ohne Engagement, das klingt solidarisch, dafür kann man sich von den Kulturkritikern feiern lassen, da bleibt man im Gerede und im Geschäft. Dabei ist doch das Übel, daß es zuviele schlechte Sänger gibt, wie es auch zuviele schlechte Musiker und zuviele schlechte Schriftsteller und zuviele schlechte Maler gibt, zuviele schlechte Kunst­handwerks­produzenten überhaupt. Aber alle stellen sie sich an um Stipendien und Förderungen. Wir lesen schlechte Hauptstadt­romane und sehen schlechte Filme und und hören schlechte Kompositionen und lassen schlechte Theater­stücke über uns ergehen, weil ignorante oder dumme Kunst­entscheider, wer weiß das schon so genau, nach der Aufmerksamkeit der Medien gieren und ihren Namen in den Zeitungen lesen und im Radio hören wollen, wenn man ihnen schon kein Interview im Fernsehen anbietet, das ist die Wahrheit, rief Reger. Doch anstatt den Talent­losen bereits während des Studiums die Wahrheit zuzumuten und ihnen nachdrücklich nahezulegen, ihre Stärken auf anderen Gebieten zu suchen, wiegt sie eine zunehmend jede Kritik wie Aussatz vermeidende Gesellschaft in falscher Sicherheit und fördert solche Mediokrität mit Stipendien. Aber die Wahrheit, lieber Atzbacher, die Wahrheit ist den Menschen zumutbar.

Es ist doch absurd, setzte Reger fort, daß der erforderliche Mindestabstand zwischen zwei Personen, von dem kein Mensch mehr weiß, wie groß er wirklich zu sein hat, in Kinos und Theatern und Opernhäusern eingehalten werden muß, nicht aber an Bord von Flugzeugen. Einmal heißt es, zwei Meter Mindestabstand seien erforderlich, einmal heißt es, eineinhalb Meter reichten aus, ein anderes Mal liest und hört man von einem Meter, der einzuhalten sei — bloß nicht an Bord von Flugzeugen. Der kommende Opern­direktor soll, so hört man, ob der bei den Verant­worlichen dieser Regierung vor­herrschenden Illusionen darüber, wie Theater und Konzert­säle funktionieren, nur mehr fassungslos den Kopf geschüttelt haben. Eine Visualisierung für die mittlerweile wegen Glücklosigkeit, wie gesagt wird, zurückgetretenen Kulturstaatssekretärin wies für die Wiener Staatsoper bei einem Meter Mindest­abstand eine Maximal­belegung von 350 Sitz- und rund 50 Steh­plätzen aus.

Jenen, die angetan mit einem Mundnasenschutz vier oder mehr Stunden an Bord einen Flugzeuges verbringen, gesteht dieser nicht nur an Kunst und Kultur, sondern auch am Hausverstand wenig Interesse zeigende Gesundheitsminister ein geringeres Infektionsrisiko zu als jenen, welche sich für zwei oder drei Stunden für ein Konzert oder eine Theater­aufführung zusammenfinden. Aber kein Journalist hinterfragt diese Aussagen — höchst­wahrscheinlich denken die spaltenfüllenden Schreiberlinge an die Geldbündel der Sonder­medien­förderung, die zur selben Zeit in den Büros der Eigentümer gezählt werden.

Den zumeist jungen Besuchern von Rock- und Pop-Konzerten — denn ja, auch das ist Kultur, selbst wenn sie nicht unserem Geschmack entspricht — richtet der Gesundheitsminister unter Hinweis auf den einzuhaltenden Mindest­abstand aus, daß Ver­anstal­tungen mit Stehpublikum noch länger nicht möglich sein werden, während doch in Bussen und Zügen in den Stoßzeiten ebensowenige Einwände dagegen bestehen wie in Flugzeugen. Höchst­wahr­scheinlich besteht das Übel darin, daß die Jungen stehen, während die Älteren sitzen, anderes ist ja gar nicht denkbar, sagte Reger. Es ist doch das Lächerlichste von der Welt, zu behaupten, in Konzert­sälen oder Arenen oder Opern­häusern stehende Menschen infizierten sich leichter mit diesem Virus als die in den öffentlichen Verkehrs­mitteln oder Flugzeugen sitzenden.

Das alles ist nur mehr grotesk, lieber Atzbacher, grotesk und verlogen, denn natur­gemäß ist die einzige zutreffende Erklärung für eine solche Vorgehens­weise die Gier: die Gier vieler eigentlich konkursreifer Fluggesellschaften nach Förderungen aus den Staatssäckeln und die der Finanzminister nach den Steuereinnahmen und Abgaben, die Gier der Reisebüros und und die Gier der Hotels in Griechenland und der Türkei und die Gier des öster­reichischen Fremden­verkehrs nach den deutschen Urlaubern, denn die Österreicher können sich ja schon lange keinen Urlaub im eigenen Land mehr leisten, das ist die Wahrheit. Aber der Österreicher gilt ohnedies nichts in seinem Land, wie die Direktoren­konferenz der öster­reichischen Bundes­museen vor kurzem mit geradezu entwaffnender Offenheit verlauten ließ, es lohne sich gar nicht, nur für die Österreicher, den Souverän und Geldgeber, diese Einrichtungen so rasch wie möglich wieder zu öffnen, hieß es. Erst nach einem gewaltigen Rauschen im Blätterwald lenkten die von diesem Souverän bezahlten Herr­schaften ein, und nun können Sie und ich ab Ende Mai wieder Het Pelsken betrachten, voraus­gesetzt, wir ersticken nicht unter diesen sinnlosen Gesichtsmasken. Wir werden Irrsigler ersuchen müssen, den Pourbus-Saal für uns zu schließen, damit wir unsere Ruhe haben und diese Masken, die doch von keinem Nutzen sind, abnehmen können, dieses Hirngespinst einiger Regierungs­einflüsterer und Epidemio­logen auf ihrem Rückzug aus der von ihnen angerichteten wirtschaft­lichen und gesellschaft­lichen Katastrophe, damit die Österreicher ihnen in ihrer Einfältigkeit und grundlos erzeugten Angst nicht auf die Schliche kommen, während jene, welchen keine öffentlichen Foren geboten werden, die Sinn­haftigkeit des Masken­tragens von allem Anfang an bestritten.

Aber während die Volkstanzgruppen und die Blas­musik­kapellen und die tausenden Laien­chöre und die kleinen Festivals weiterhin nicht proben, spielen und auftreten dürfen, weil sie den gerade gültigen Mindest­abstand, der ändert sich ja jeden Tag und je nachdem, wen man fragt oder wo man sich aufhält, nicht einhalten können, träumen ressortfremde und zuständige Minister von Theater­aufführungen mit eben­diesem Mindest­abstand nicht nur im Publikum, sondern auch zwischen den Protagonisten, als befänden wir uns in einer niemals endenwollender Zeitschleife schlechter Robert Wilson-Inszenierungen, eine falscher und absurder und grotesker als die andere, und müßten froh sein darüber, daß man den Künstlern und uns eine neue Normalität gestattet.

Noch traut man sich das nicht offen sagen, aber mich würde es nicht wundern, lieber Atzbacher, so Reger, daß von dieser an Kunst und Kultur in keiner Weise interessierten Regierung hinter den Kulissen die Idee gewälzt wird, mit Beginn der neuen Saison die österreichischen Theater und Opernhäuser zu öffnen, ohne Stehplätze allerdings. Selbst wenn ich auf Grund meines Alters Sitzplätze vorziehe, so ist ein solches Vorgehen selbstverständlich in hohem Maße abzulehnen, im allerhöchsten Maße überhaupt, denn diese gesellschaftspolitisch geradezu vorbildliche und seit über 150 Jahren nicht nur an der Staatsoper vorhandene Einrichtung ist eine soziale Errungenschaft sondergleichen und darf nicht geopfert werden, niemals! Die Einrichtung der Stehplätze erlaubt es auch weniger begüterten oder jüngeren Steuerzahlern, am Kunst- und Kulturleben dieses Landes teilzunehmen, aber die sozialdemokratische Partei in diesem Land hat so abgewirt­schaftet, daß sie nicht einmal mehr dieses Thema besetzen kann, nachdem es mit der Staatsoper 4.0 nichts zu werden scheint, selbst wenn der sozialdemokratische Kultursprecher wehmütig an seine Ministerzeit zurückdenkt und jeden Tag eine unbrauchbarere Idee als am Vortag gebiert. Überhaupt stünde es jenen kulturellen öffentlichen Einrichtungen, die über keine Stehplätze verfügen, gut an, diese Möglichkeit des Vorstellungsbesuches einzuführen anstatt sie dort, wo es sie gibt, um des Friedens eines Kirchhofes willen abzuschaffen, auch nicht auf Zeit und auch nicht nur für einen Tag.

Nein, nein, rief Reger, ich brauche keine neue Normalität, die es ja gar nicht geben kann naturgemäß, neue Normalität, das ist ja ein Widerspruch in sich, vielen Dank! Ich will, daß diese katholisch-konservativ dominierte Regierung endlich aufhört, die Bevölkerung in allem und jedem zu bevormunden. Jeder an Kunst und Kultur Interessierte oder Ausübende soll als mündiger Bürger selbst entscheiden können, ob und unter welchen Umständen er kulturelle Dar­bietungen besuchen oder an ihnen mitwirken will. Ich bin weit über achtzig, sagte Reger, ich gehöre der Risiko­gruppe an. Aber ich will selbst entscheiden, ob ich am Sonntag­vormittag Mozart und Bruckner und Beethoven und Schubert, abge­schmackt oder nicht, im Philhar­monischen Konzert erleben will oder nicht. Und ich will nicht, daß diese Entscheidung ein öster­reichischer Bundes­kanzler oder eine Regierung in Orwellscher Ausbreitung ihrer Allmachts­phantasien für mich trifft. Denn alles andere, lieber Atzbacher, wäre doch völlig menschenverachtend.

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