»Macbeth«. Eine TV-Tragödie

Von Thomas Prochazka

Dramolett in einem Prolog, einem Aufzug und einem Epilog.

Prolog

Foyer eines der führenden Opernhäuser der Welt, am Abend der Première von Giuseppe Verdis Oper »Macbeth«.

Kompetente TV-Klassik-Star-Moderatorin (steht in einem orangefarbenen Abendkleid im Foyer, hinter sich die große Haupttreppe, hält das Mikrofon wie eine tropfende Salzgurke mit drei Fingern):
Guten Abend, mein Damen und Herren, herzlich willkommen zu unserer Live-Übertragung von Giuseppe Verdis Oper »Macbeth«!
Kameramann (verflucht jene Idioten, welche der Moderatorin einen rosafarbenen Lippenstift verpaßten und ihr das einfärbige Präsentationstäfelchen in der Farbe der Sendeanstalt in die Hand drückten).
Kompetente TV-Klassik-Star-Moderatorin (mit vor Aufregung zitternder Stimme):
Der heutige Abend stellt den Beginn einer Revolution in unserer Kultur-Berichterstattung dar! Erstmals bieten wir Ihnen nicht nur die Oper selbst, nein, wir senden auch Einblicke hinter die Kulissen, Einblicke in die Produktion!
Ambitionierter TV-Klassik-Nachwuchsmoderator (drängt sich ins Bild, der Kameramann justiert eilig den Fokus, damit zuhause vor den TV-Apparaten beide zu sehen sind. Betont leutselig):
Guten Abend, guten Abend! Ja, wir beobachten heute auch alle Beteiligten — die Sänger, den Chor, das Ballett, die Bühnenarbeiter, die Musiker, alle die tausenden, helfenden Hände im Hintergrund — bei ihren Vorbereitungen und Auftritten, stellen Fragen und zeigen, wie das Präzisionsuhrwerk … äh … Präzisionswerk Oper funktioniert. Mit dieser … äh … Inti…. äh … Initi… Initiative wollen wir mithelfen, der Oper neue Publikumsschichten zu erschließen…
Kompetente TV-Klassik-Star-Moderatorin (reißt das Ruder wieder an sich):
Hinter der Bühne ist das fast wie eine kleine Stadt. Die Menschen gestalten ihre Arbeitsplätze als keine Platzerln mit persönlichen Dingen wie Fotos, Zeichnungen und Blumen. Folgen Sie uns in einen aufregenden Abend, den Sie so schnell nicht vergessen werden!
(Vorhang.)
 

Aufzug

Auf der halbdunklen Seitenbühne. Inspizient, Bühnenmeister, ein paar Bühnenarbeiter, Choristen, zwei als Gaukler verkleidete Statisten, eine Solo-Garderobiere, die weltberühmte russische Star-Sopranistin im prachtvollen Kostüm der Lady Macbeth. Auf der Bühne verkünden die Hexen Macbeth seine Zukunft.

Weltberühmte russische Star-Sopranistin (steht in der Nähe der vierten Bühnengasse und bereitet sich mental auf ihren Auftritt vor).
Kompetente TV-Klassik-Star-Moderatorin (entdeckt letztere, eilt, den Kameramann im Schlepptau, mit gezücktem Mikrofon auf sie zu. Mit einem augenzwinkernden Lächeln in die Kamera):
Eigentlich ist mir strengstens verboten, mit Sängern vor der Produktion zu sprechen! (Hält der Sängerin der Lady Macbeth das Mikrofon unter die Nase.) Sie werden jetzt gleich hinaus­gehen und eine unglaublich schwierige, anspruchsvolle Arie singen: Wie bereiten Sie sich diese letzten Minuten vor? Machen Sie Gesangsübungen? Beten Sie? Meditieren Sie? Ich habe auch gelesen, daß Sie sehr gerne Irish Folk Dance machen?
Weltberühmte russische Star-Sopranistin (komplett aus ihrer Konzentration gerissen, mit starr vor Schock geweiteten Augen):
Ja, also… Betreffend den Irish Folk Dance: Das ist sehr entzückend. Klingt wie ein netter Witz. Glauben Sie mir, ich werde nicht zu sehr durch die Gegend springen, bevor ich zu singen beginne! Obwohl ich es mag zu tanzen…
Kompetente TV-Klassik-Star-Moderatorin (unterbricht sie):
Mit Ihren Freundinnen in Krasnodar…
Berühmte russische Star-Sopranistin (entrüstet):
Das ist die Netrebko, nicht ich!
Kompetente TV-Klassik-Star-Moderatorin (halblaut):
Ah so? Na, auch wurscht!
Weltberühmte russische Star-Sopranistin (bietet alle Kräfte auf, um nicht rüde zu werden, mit wachsenden Anzeichen von Nervosität und flackerndem Blick):
Kurz vor dem Auftritt bevorzuge ich es zu beten. (Will endlich allein gelassen werden, um sich konzentrieren zu können.)
Kompetente TV-Klassik-Star-Moderatorin (tätschelt sie am rechten Oberarm. Jovial):
Na, dann alles Gute und toi, toi, toi, wie man so sagt am Theater!
Inspizient:
Auftritt Lady Macbeth, bitte!
Berühmte russische Star-Sopranistin (bekreuzigt sich, wirft der Moderatorin einen zornerfüllten Blick zu, atmet tief durch und geht auf die Bühne):
Nel di della vittoria io le incontrai… Stupido io n'era per le udite cose; Quando … quando … i nunzi del Re mi salutaro… (Ihre Stimme flattert, sie ist unsicher.)
Kompetente TV-Klassik-Star-Moderatorin (selbstzufrieden, in die Kamera):
Das war wirklich Glück, daß wir die … die… (sucht nach dem Namen der Sängerin, dann mit weg­wer­fender Handbewegung) … die Lady Macbeth noch so kurz vor ihrem Auftritt zu einem Interview vor die Kamera bekommen haben!
Berühmte russische Star-Sopranistin (beginnt die erste Phrase des Rezitativs a capella, versingt sich so oft, daß selbst den Kinderkritikern des Online-Merker und ihren erwachsenen Ghostwritern das Wort "famos" in der Tastatur hängen bleibt):
Ambizioso spirito tu sei, Macbetto… alla grandezza aneli… ma sarai tu mal vagio? (kämpft tapfer weiter, nun mit Orchester) Fien di misfatti (erreicht das g" nicht) è il calle della potenza… (Singt so falsch, daß sie abbricht.)
Gehypter Verdi-Dirigent (bringt das Orchester so zum Schweigen, daß man es als Teil der Inszenierung verstehen kann. Wartet, was jetzt kommen wird).
Berühmte russische Star-Sopranistin (stampft wütend mit dem Fuß auf, geht durch die zweite Bühnengasse ab.)
Kompetente TV-Klassik-Star-Moderatorin (in die Kamera, verwundert):
Bei den Proben dauerte die Szene immer länger. Wir werden schauen, ob uns jemand sagen kann, was da jetzt passiert ist. (Sieht die Sängerin der Lady Macbeth in der Seitengasse auftauchen, stürzt mit gezücktem Mikrofon auf sie zu.):
Können Sie uns sagen, was da eben auf der Bühne vorgefallen ist?
Berühmte russische Star-Sopranistin (stößt einen lauten Schrei aus, holt aus und verabreicht der Moderatorin zwei Paar Ohrfeigen, die sich gewaschen haben).
Kompetente TV-Klassik-Star-Moderatorin (weiß nicht, wie ihr geschieht. Geht mit ausgerenktem Unterkiefer zu Boden, Blut fließt aus ihrer Nase).
Berühmte russische Star-Sopranistin (kocht immer noch vor Wut, steht über ihr, eine Erinnye, zeigt mit ausgestreckter rechter Hand auf das Gesicht der Moderatorin):
Muori dannata! Muori! Muori!
Nach einem Moment absoluter Stille bricht auf der Seitenbühne unter den Anwesenden frenetischer Jubel aus, der des immer noch geöffneten Vorhanges wegen bis in den Zuschauerraum zu hören ist. Der Inspizient umarmt die gut aussehende Solo-Garderobiere und küßt sie (etwas, das er schon lange tun wollte), Chordamen und Bühnenarbeiter liegen einander mit Tränen in den Augen in den Armen, geben einander »High five«, es herrscht eine ausgelassene Stimmung, als ob von allen eine große, jahrelang gemeinsam geschulterte Last abgefallen ist.
Berühmte russische Star-Sopranistin (macht auf dem Absatz kehrt und rauscht zurück  auf die Bühne. Stellt sich in Position. Dann, völlig ruhig und gelassen, ohne jeden Zweifel):
Nel di della vittoria io le incontrai…
Gehypter Verdi-Dirigent (vergißt seine Nervosität und folgt der Sängerin der Lady Macbeth willig).
Berühmte russische Star-Sopranistin (singt die Briefszene ihres Lebens. Das Publikum applaudiert für mehr als sieben Minuten).
(Vorhang.)
 

Epilog

Der Video-Ausschnitt mit dem Backstage-Vorfall und der Briefszene der Lady Macbeth erreicht auf YouTube innerhalb von 24 Stunden mehr als fünf Millionen Views weltweit und 3,6 Millionen »Likes« auf der Facebook-Seite des Opernhauses.

Berühmte russische Star-Sopranistin (ersang sich mit dem Live-Mitschnitt der Briefszene der Lady Macbeth für zehn aufeinanderfolgende Wochen den ersten Platz in den U.K. Pop-Charts und für immerhin fünf Wochen in den U.S. Pop-Charts).
Ambitionierter TV-Klassik-Nachwuchsmoderator (mit der Neigung zur einseitigen und falschen Berichterstattung bei Rücktritten von Generalmusikdirektoren aller Art) »Likes« das Video auf Facebook.
(Vorhang.)
 

Dieser Text erschien erstmals am 12. August 2015 auf der Website des Online-Merker.

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