Gesangstechnische Beobachtungen am Beispiel von Puccinis »Vissi d’arte«

Von Thomas Prochazka

Schon Mathilde Marchesi (1821 – 1913) stellte fest: »Jede Kunst besteht aus einem technischen Teil und einem ästhetischen Teil. Ein Sänger, welcher die Schwierigkeiten des ersten Teiles nicht meistert, kann niemals Perfektion im zweiten erreichen; nicht einmal ein Genie.«1

Im Alltag werden diese beiden Dinge leider oft miteinander verwechselt. Dann liest man — zumeist jubelnd — von »Interpretationen« (dem nach Marchesi »ästhetischen Teil«), wo ein Sänger doch nur gesangstechnische Defizite zu cachieren sucht…

II.
Für Erklärungen der detaillierten physikalischen und anatomischen Grundlagen des Singens gibt es Berufenere. Diese Grundlagen zu kennen, ist kein Nachteil, ändert aber nichts am Ziel des Sängers (gleichgültig, ob nun Lied, Oratorium oder Oper): die Hervorbringung eines möglichst gleichartigen Tons über den gesamten Stimmumfang. 

III.
Glücklicherweise gibt es in der Natur nichts Perfektes. Selbst die großen Sänger, hinab­gesunken in die ewige Nacht der Vergangenheit, waren nicht fehlerlos. Und ja, man kann auch mit gröberen gesangstechnischen Mängeln erfolgreich Karriere machen. (Die heute fast schon epidemisch auftretenden »Welt-Stars« geben ebenso beredt Zeugnis davon wie Vertreter früherer Generationen.) Doch dauern solche Karrieren in der Regel nicht lang; denn die physikalischen und anatomischen Gesetzmäßigkeiten gelten immer. Sie ändern sich auch — dummerweise — nicht.

IV.
Jeder gesangstechnische Mangel führt zu einer ungleichmäßigen körperlichen Belastung, welche Folgen zeitigt: Zu Beginn sind das muskuläre Verspannungen (Rücken, Hals, Kehlkopf, etc.). Sie spürt vorerst nur der Sänger, während das Publikum rast, das (zumeist) nichtsahnende Feuilleton den nächsten Caruso, die nächste Callas herbeischreibt und die Agentur Engagements an Land zieht, welche niemals ohne weitere Beschädigung des eigenen Körpers erfüllt werden können. Ohnehin selten auftretende, warnende Stimmen werden in den Wind geschlagen oder milde lächelnd verworfen, danke, es sei alles in Ordnung, kein Grund zur Besorgnis.

Fünf Jahre später steht der Sänger mit kaputter Stimme vor den Scherben seiner Karriere: Das legato (so man es je beherrschte) ist brüchig geworden, der übermäßige und falsche Gebrauch von portamento (das »Anschleifen« jedes höheren oder, von oben kommend, jedes tieferen Tons) wurde längst zum treuen Begleiter. Der Zerfall der Stimme in eine untere und eine obere Stimmfamilie ist auch vor Laien nicht mehr zu verbergen.

Mit ein bißchen Glück gelingt es einem findigen Management, diese Leistungen der Öffentlichkeit als »intensive Darstellung« und »engagiertes Spiel« zu verkaufen. Ein paar Journalisten, welche sich für ein »Exklusiv-Interview« gerne dieser Meinung anzuschließen gesonnen sind, finden sich immer. Der Sänger stellt, gerade einmal auf die 40 Jahre zugehend, einen »Fachwechsel« in Aussicht: Man werde in Hinkunft dramatischere Partien ins Repertoire nehmen; oder, auch beliebt: »mehr Wagner singen«. (Als ob Richard Wagner jemals kaputte Stimmen gefordert hätte.) Zusätzlich schadet es nicht, sich ein paar Anhänger als Hofberichterstatter in diversen Blogs und Internet-Foren zu halten. (Die sind oft für ein paar Freikarten und gemeinsame Fotos nach den Vorstellungen relativ günstig zu bekommen.) 

V.
Gute Sängeragenten, Lehrer und Kollegen hören solche gesangstechnischen Mängel in der Regel sehr rasch. Doch die Auswirkungen dieser Mängel sind, so man weiß, worauf zu achten ist, auch zu sehen. Und das gilt auch für passionierte Opernliebhaber. 

Die Frage, warum man sich als Laie damit beschäftigen sollte, ist müßig: Erstens schadete es noch nie, etwas zu lernen. Das erleichtert die eigenständige Meinungsbildung; macht unabhängig. Und zweitens sollte sich das Publikum (dem auch die Rezensenten zuzuordnen sind) nicht länger mittelmäßige Leistungen als »Weltklasse« verkaufen lassen. Im Gegenteil, die verantwortlichen Intendanten — und die jene engagierenden Politiker! — wären nachdrücklich und immer wieder daran zu erinnern, daß es ihre (zumeist sehr gut entlohnte) Aufgabe als Leiter der diversen Opernhäuser ist, darauf zu achten, daß die auf den Spielplänen stehenden Meisterwerke musikalisch adäquat besetzt und aufgeführt werden.

VI.
Nehmen wir als Beispiel zwei Live-Mitschnitte von »Vissi d’arte« aus Puccinis Tosca, mit Bild: einmal gesungen von Renata Tebaldi (Staatsoper Stuttgart, 1961), einmal von Anna Netrebko (Teatro alla Scala di Milano, 7. Dezember 2019). Man lege das Augenmerk auf die Gesangstechnik, nicht auf die Interpretation; etwa auf folgende Dinge:

  • Die Mundöffnung: Wie klingt es, wenn ein Sänger den Mund horizontal wenig öffnet? Wie klingt es, wenn der Mund horizontal weit geöffnet wird?
  • Der Atem: Wie atmete Renata Tebaldi, wie atmet Anna Netrebko?
  • Und als Konsequenz: Wie unterscheidet sich die Vokalisation der beiden? Was ist typisch für Netrebko, was war typisch für Tebaldi? Wie klingt Netrebko, wie klingt Tebaldi?

VII.
Der erste, vielleicht fundamentale Unterschied ist das Stimmfach: Renata Tebaldi war ein an der italienischen Art geschulter Spinto-Sopran. Anna Netrebko ist ein — über seine Verhältnisse singender — lyrischer Sopran. Nun ist die Tosca jedoch eine Spinto-Partie. Netrebko bewegt sich also außerhalb ihres natürlichen Habitats. Conrad L. Osborne zitierte in seinem Artikel »Two Voices, Two Journeys: Netrebko and Kaufmann« (S. 5) eine Sopranistin zu Netrebkos aktueller Repertoire-Auswahl: »Sie [Netrebko, Anm.] hat ein paar Rollen, die sie jetzt singen will. Und weil sie getan hat, was sie getan hat, müssen sie [die Intendanten, Anm.] sie es tun lassen.« »Das stimmt leider«, setzte Osborne hinzu.

Zurück zu den Videos: Renata Tebaldi atmet tiefer, dabei doch ruhiger als Anna Netrebko. Jeder Atemzug der Italienerin scheint gehaltvoller als jene der Russin. Dabei atmet Tebaldi normal, holt bei jedem Atemzug nur soviel Luft, wie sie für die nächsten Phrasen benötigt. Nicht mehr — und nicht weniger. Nicht das Einatmen, das Ausatmen ist die große Kunst des Singens.

Der Eindruck einer gewissen Steifheit Tebaldis ist nichts anderes als ihre »Stütze« (oft auch als »support« bezeichnet), nachdem sie bereits zu tönen begonnen hat. Das »Stützen« der Stimme erfordert große Kraft der abdominalen Muskulatur. Die Abgabe der Luft durch die Stimmlippen soll sparsam, doch gleichzeitig kontinuierlich, quasi »fließend« erfolgen. Kein Wunder, daß Tebaldi einmal bemerkte, ihre Kollegen und sie hätten an einem Abend drei bis vier Kilogramm an Gewicht verloren!

Netrebko atmet weniger tief ein. Damit steht ihr weniger Luft für die Bestreitung der Phrasen zur Verfügung. Im Besteben, die fehlende notwendige Kraft wettzumachen, das fehlende Fundament ihrer Stimme auszugleichen, singt Netrebko quasi »ein Stockwerk höher«: mit dem Hals anstelle des Körpers.

VIII.
Tebaldi singt mit vertikal (und viel weniger offenem) Mund als Netrebko. Damit steht ihr der Rachen als Resonanzraum zur Verfügung, ehe die Luft durch den Mund austritt.

Netrebkos Mund ist viel breiter (und auch weiter) geöffnet. Dadurch wird der Ton »luftig« (»breathy«, würde Yannick Nézet-Séguin feststellen). Die Folge: Die Töne klingen angenehm »weich«, befriedigen heutige Hörgewohnheiten. Aber sie sind flach; ihnen eignet kein Kern. Sie sind gänzlich uninteressant. Echter Operngesang klingt anders.

Netrebko macht kaum Gebrauch von der doch notwendigen Aktivierung der unteren Stimmfamilie (der »Bruststimme«). Man hört dies z.B. deutlich beim ersten »perché me ne rimuneri così«: Das ›g‹ und das nachfolgende tiefe Sopran-›es‹ beim Abstieg auf »ri-mu-ne-ri co-sì« werden »gedrückt«. Durch den weit geöffneten Mund begibt sich Netrebko oft der Möglichkeit zur Formung des Tons, die Kontrolle über die Tongebung geht in solchen Momenten verloren.

IX.
Man achte auch auf Tebaldis Körperhaltung: Sie sitzt kerzengerade auf der Chaiselongue und spannt die Schulterblätter wie ein Trapez, damit die Lunge und die Rippenmuskulatur die erforderliche Arbeit tun können. Diese Haltung ändert sie auch nicht, als sie aufsteht. (Fast hat es den Eindruck, sie bewege sich etwas steif.)

Selbstverständlich lassen sich auch gegenüber Tebaldis Tun Einwände finden: Der Spitzenton erklingt ein wenig abgesetzt (wiewohl klar und kräftig), wird fast abrupt und gänzlich ohne messa di voce beendet. Und auch Tebaldi »drückt«, obwohl ihrer Stimme ein Kern eignet, ein-, zweimal beim Durchgang durch das passaggio nach.

X.
Fazit: Gesangstechnische Mängel sind mit ein wenig Übung auch für interessierte Laien sicht- und damit hörbar. Grund genug, den alten Operngucker wieder einmal hervorzukramen und sich nicht länger auf veröffentlichte Meinungen des Dargebotenen zu verlassen.

Was darüber jedoch nicht vergessen werden soll: Was wir sehen, sind die Auswirkungen dieser Mängel; nicht ihre Ursachen. Letztere zu benennen bzw. dagegen Abhilfe zu schaffen, ist ein anderes Thema. Es soll den Experten überlassen bleiben.

  1. »Every art consists of a technical/mechanical part and an aesthetical part. The singer who cannot overcome the difficulties of the first part can never attain perfection in the second, not even a genius.” — Mathilde Marchesi (24. März 1821 – 17. November 1913)

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