Pieter Bruegel d. Ä. (um 1525/30 – 1569 Brüssel): »De parabel der blinden«, 1568 (Ausschnitt). Tempera auf Leinwand, 86 × 154 cm. Napoli, Museo Nazionale di Capodimonte Public Domain

Pieter Bruegel d. Ä. (um 1525/30 – 1569 Brüssel): »De parabel der blinden«, 1568 (Ausschnitt). Tempera auf Leinwand, 86 × 154 cm. Napoli, Museo Nazionale di Capodimonte

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Kulturlos

Von Thomas Prochazka

Eine Erregung (nach Thomas Bernhard).

Um halb zwölf Uhr mit Reger im Volksgarten verabredet, strebte ich, aus lauter Eile beim Aussteigen aus der Straßenbahn meine Atemschutzmaske verlierend, diese, solcherart für mich nutzlos geworden, auch nicht aufhebend, der vereinbarten Parkbank zu, sagte Atzbacher. Die jungen Polizeibeamten, angetan mit ebensolchen Atemschutzmasken, den Eingang zum verwaisten Volksgarten sichernd, ließen mich grüßend passieren. Mich der mir von Reger bezeichneten Bank von hinten nähernd, saß dieser bereits an deren einem Ende. Zu meiner Verwunderung war auch Irrsigler zugegen, den ich im Burgenland glaubte, nicht in Wien, waren doch die Bundesmuseen und mit ihnen auch das Kunsthistorische Museum geschlossen und das Personal auf fremde Rechnung in Kurzarbeit geschickt worden.

Da staunen Sie, sagte Reger, mich bemerkend, während er dem in seiner Uniform erschienenen und mit der ganzen ihm zur Verfügung stehenden Gravität seiner Anwesenheit etwas Museales und also Beruhigendes ausstrahlenden Irrsigler einen Schein zusteckte. Man soll nicht von der Macht der Gewohnheit abrücken, erklärte Reger. Außerdem habe er, Reger, Irrsigler nach Wien beordert, damit dieser der Dummheit der kürzlich durch den burgen­ländi­schen Landes­haupt­mann kundgemachten und mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrigen Verordnungen wenigstens für ein paar Stunden entfliehen konnte.

Sie werden sich wundern, warum ich Sie hierher zitiert habe, sagte Reger, nachdem ich am anderen Ende der Bank Platz genommen hatte, er sagte wirklich »hierher zitiert« und nicht etwa »gebeten«, und eben genau zu dieser Parkbank, nicht zu irgendeiner anderen, nein, nur zu dieser, naturgemäß. Denn nur diese Bank, erklärte er, mit seinem erhobenen Spazierstock gegen das Bundeskanzleramt zeigend, gewähre im Winterhalbjahr den freien Blick auf das Zentrum der Kulturlosigkeit dieses Landes. Wir haben uns geirrt, sagte Reger, nicht die Schmierfinken in den Redaktionen oder deren Chefredakteure sind die Kulturlosen, es sind die Politiker. Die Journalisten verstecken nur in vorauseilendem Gehorsam diese ganze, unglaubliche Kulturlosigkeit hinter den Floskeln der zum vermeintlich höchsten Gut erhobenen Unversehrtheit des Volkskörpers, andernfalls man die Blätter mit dem Entzug von Förderungen und die Journalisten mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes bedrohte.

Ich gönne es Irrsigler, wischte sich Reger mit dem Handrücken über den Mund, daß das Kunsthistorische Museum erst Anfang Juli wieder seine Pforten öffnen werde, aber daß der Kulturstaatssekretärin keine Einwände entgegenschallten, daß die Bundesmuseen, die Mitte Mai öffnen könnten, bis Ende Juni geschlossen blieben, »aus betriebswirtschaftlichen Gründen«, wie gesagt wurde, sei eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes und ein Armutszeugnis, naturgemäß. Zum ersten beleidige diese Aussage jeden halbwegs intelligenten Menschen, denn Museen seien dazu da, ihre Sammlungen zu präsentieren, damit wir uns an den Werken der alten Meister abarbeiten können. Seit Monaten, was sage ich, seit Jahren sitze ich Tag um Tag vor Het Pelsken, rief Reger, wie ich zuvor vor dem Weißbärtigen Mann gesessen bin, und immer noch habe ich noch nicht alle Fehler gefunden. Zum zweiten beleidigt diese kulturlose, wiewohl nicht unbedacht getane Äußerung meine Intelligenz, hat doch diese vermeintlich aus gesundheitlicher Vorsichtsmaßnahme getroffene Entscheidung keinen anderen Hintergrund als eben jenen, daß im Falle einer Öffnung die Gehälter der Angestellten zur Gänze aus dem Museums-Budget zu begleichen wären, während für die Kosten der Kurzarbeit zum Großteil das Arbeitsmarkt-Service aufzukommen hat. Dabei sei es naturgemäß auch nicht von Belang, daß alle Ausgaben im Ende im Staatshaushalt aufaddiert und die wenigen noch verbliebenen, die Steuerlast tragenden Bürger dieses Landes auf Jahre hinaus begleiten würden. Doch dies alles müsse zurückstehen zugunsten der Präsentation eines möglichst geringen Defizits der Museen in den Bilanzen und dem damit einhergehenden Selbstlob der Direktoren.

Aber wir sollten uns nicht wundern, sagte Reger, mehrmals mit der Spitze seines Spazierstockes auf den Asphalt klopfend, denn die Kulturlosigkeit dieser wie auch der vorangegangenen Regierungen ist ja Programm. Kein Mensch interessiert sich mehr für die sogenannte Hochkultur. Sehen Sie sich doch das Burgtheater an, die Oper: Seit Jahrzehnten betreten die Bundeskanzler und zuständigen Minister keine Theater und Opernhäuser mehr, seit Jahren wissen sie gar nicht, für welche Mediokritäten Steuergelder hinausgeworfen werden, was vorgeht in diesen Häusern, offizielle Staatsakte und den Opernball ausgenommen. Sie wissen gar nicht, wie den darstellenden und schaffenden Künstlern zumute ist, die, von den Pseudomächtigen im Stich gelassen, weil für letztere die Rettung der Fußball-Bundesliga öffentlichkeitswirksamer ist, allabendlich ihr Können zur Schau stellten, wenn man sie denn ließe. So aber vegetieren sie zu Tausenden an der Armutsgrenze dahin in der großen Kulturnation, als die sich dieses Land bei jeder Gelegenheit feiert. Die »Staatsoper 4.0« forderte ein ehemaliger Kulturminister, dessen Erfolg sich vielleicht am besten daran messen läßt, daß ihm sein eigener Dienstwagen davonfuhr. Und der so vergeßlich war, daß er ein aus dem Belvedere entliehenes Gemälde nach seinem Ministerabschied kurzerhand in sein Büro in der Parteizentrale übersiedelte.

Doch seine Nachfolger sind um nichts besser, rief Reger, sagte Atzbacher, während Irrsigler seine Runden um die Parkbank und das diese umschließende Rasenstück zog und jede Polizeistreife, die auch nur Anstalten erkennen ließ, sich zu nähern, um auf den einzuhaltenden Mindestabstand hinzuweisen oder vielleicht gar Fragen nach einem Leben in einem gemeinsamen Haushalt zu stellen, allein durch seine jahrzehntelang im Publikumsdienst des Kunsthistorischen Museums geschulten, strengen Blicke auf Distanz hielt.

Die Nachfolger sind naturgemäß um nichts besser, wiederholte Reger, und die Kulturlosigkeit in diesem Land ist mittlerweile eine existenzbedrohende geworden. Die Wirtschaft muß wieder in Schwung kommen, verkündet uns die Regierung mit großer Geste, dabei war doch sie es, die das Land zuerst in diese Bedrängnis gebracht hat, mit 600.000 Arbeitslosen und 24 % aller Unternehmen vor dem Bankrott. Nicht die Kultur, wohlgemerkt, die Wirtschaft sei »aufzuwecken«, wie man das heute nennt, hören wir, geradeso, als gäbe die Kultur keine Impulse für die Wirtschaft. Dies verkennend, durften Baustoffmärkte und kleine Geschäfte nach einem Monat und, mit dem letzten Geld ihrer Inhaber am Leben erhalten, wieder aufsperren. Sie sind wichtiger als die persönlichen Dienstleistungen der Friseure und medizinische Pediküre, denn wenn die Leute unter Strafandrohung kaum ihre Wohnungen und Häuser verlassen dürfen, ist es gleichgültig, ob sie gepflegt aussehen oder nicht. Daß der Friseur des Bundeskanzlers trotz Arbeitsverbots und also gesetzwidrig im Fernsehen zur Schere greift, stört nur wenige. Dem Untertan bleiben solche persönlichen Dienstleistungen zwar verwehrt, doch fragt sich, wie es den in den Pressekonferenzen wie Goldfische im Aquarium hinter Plexiglaswänden Auftretenden gelingt, auch nach fünf Wochen noch gepflegt auszusehen. Nur einem Schelm fallen da George Orwells Schweine ein.

Wen wundert es also, fragte Reger, berichtete Atzbacher, daß der Vizekanzler und seine Kultur­staats­sekretärin einen Eiertanz vollführen, um die Bregenzer und die Salzburger Wirtschafts­treibenden nicht vor der Zeit zu verprellen und mit ihren Meinungen nach vagen, dabei aber doch unmißverständlichen und eindeutig widersprechenden Aussagen falsche Hoffnungen auf sommerliche Festspiele nähren? Man befinde sich nach wie vor in Verhandlungen mit der Landespolitik und den Veranstaltern, ließ man die Öffentlichkeit wissen. Als ob es da etwas zu verhandeln gäbe, rief Reger und stampfte mit seinem Stock auf, hielte man sich an die eigenen, mit großer Wahrscheinlichkeit in Teilen sogar rechtswidrigen Verordnungen, wer weiß das schon so genau in diesen Zeiten. Doch der immer noch im monar­chistischen Unter­tanen­gehorsam stecken­gebliebene Österreicher fragt nicht einmal mit Kaiser Ferdinands Worten: »Dürfen’s denn des?« Das Recht ist diesem bevormundeten Volk schon lange ausgegangen, anstatt von ihm auszugehen. Musikfestivals könnten nicht stattfinden, erklärt die Kultur­staats­sekretärin, da dort viele Menschen stehend auf engem Raum zusammenkämen, gerade so, als ob die Sitzabstände in den Bregenzer und Salzburger Festspielhäusern größer und das Gedränge in den Pausenräumen und vor den Damen-Toiletten geringer wäre. Aufgrund des 100-Jahr-Jubiläums der Salzburger Festspiele sei die Situation »besonders dramatisch«, verkündete der Vizekanzler, als mache die Zahl »100« einen Unterschied zu »99« oder »101«. Was an der Zahl »100« so dramatisch sei, sagte er nicht. Es fragte ihn auch niemand, denn für eine Beteiligung an der Sonder-Medienförderung erwarten die Mächtigen Gegenleistungen. Aber die Präsidentin der Festspiele sowie der sich unlängst bei der Bestellung des zukünftigen Intendanten der Osterfestspiele besonders hervorgetan habende, von geradezu bemitleidenswerter kultureller Ahnungslosigkeit beseelte Landeshauptmann sind derselben Reichshälfte zuzuordnen wie der Bundeskanzler, also wird man die Festspiele in irgendeiner Form zu ermöglichen suchen. Allerdings scheint mir die Annahme, wonach die Festspielbesucher stundenlang mit Atemschutzmasken vor dem Gesicht in trotz Klimaanlagen stickigen Konzertsälen und Opernhäusern oder auf sonnendurchfluteten Domplätzen den Darbietungen lauschen werden, weltfremd, meinte Reger: Soviel Kulturlosigkeit kann man von keinem Publikum der Welt erwarten, nicht einmal vom Salzburger.

Wir sind dazu verdammt, fuhr Reger fort, fortan mit diesem Virus und seinen Mutationen zu leben, wie wir auch gelernt haben, mit den anderen Corona-Viren und ihren Mutationen zu leben, wenn sie uns jährlich als »Grippewelle« heimsuchen. Aber wir sind nicht dazu verdammt, die derzeit in diesem Land herrschende Kulturlosigkeit widerspruchslos hinzunehmen: nicht für einen Monat, und auch nicht für noch längere Zeit. Verzeihen Sie, sagte Reger erregt und erhob sich, mit dem Stock in Richtung Bundeskanzleramt zeigend, aber ich ertrage diesen Ausblick auf die Unkultur nicht länger.

Er winkte Irrsigler zu sich, und gemeinsam verließen sie, unbehelligt von den jungen Polizeibeamten, den Volksgarten, während seine Worte in mir nachklangen. Am meisten beschäftigte mich die Frage, was jener in seinen Entscheidungen glücklose Minister mit »Staatsoper 4.0« wohl gemeint haben konnte.

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