» Salome « nach der Vorstellung von Cyril Teste. Im Vordergrund Michaela Schuster (Herodias), Gerhard Siegel (Herodes) und, rechts am Bühnenportal, Malin Byström (Salome) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Salome « nach der Vorstellung von Cyril Teste. Im Vordergrund Michaela Schuster (Herodias), Gerhard Siegel (Herodes) und, rechts am Bühnenportal, Malin Byström (Salome)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Richard Strauss: » Salome «

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Es handelt sich um eine Serie von Mißverständnissen; — auf mehreren Ebenen. Erstens: der bereits durch den Text zum Scheitern verurteilte Versuch, dieses Stück in unsere Zeiten zu heben. Zweitens: es mit zusätzlichem Personal auszustatten. Das stiftet Verwirrung, wo Klarheit vonnöten wäre. Drittens: die (noch dazu unvollkommene) Detailverliebtheit der bühnentechnisch Schaffenden verstellt den Blick auf’s Ganze.

Viertens: die (erneut festzumachende) Vorherrschaft des zu Sehenden über Musik und Gesang. Fünftens: die fortgesetzte Bevormundung der Gesellschaft durch sich überlegen dünkende » Künstler « auf ihrem Kreuzzug gegen Traditionen unter dem Deckmantel der political correctness.

II.
Erinnert sich jemand der im Oktober 2022 in einem Interview getanenen Aussagen des Musikdirektors der Wiener Staatsoper? In der Folge erfuhr eine kulturinteressierte Öffentlichkeit mehr über die Spielregeln der Macht an einem Opernhaus und in Kulturredaktionen, als vielen lieb sein konnte. Also sprach Philippe Jordan: Ich glaube, daß das Theater, was die Regie betrifft, seit langer Zeit einen fatalen Irrweg eingeschlagen hat. […] Das Publikum hat eine richtige Sehnsucht, einfach wieder einmal gutes Theater zu sehen und nicht nur irgendeine Fassung von Irgendjemandem über Irgendwas.

Wenn Cyril Teste aus Salome einen Abend über den gewollten Mißbrauch einer Minderjährigen konstruiert: Hätte Philippe Jordans moralischer Kompass ihn nicht dazu bewegen müssen, seinen Worten Taten folgen zu lassen und das Dirigat dieser Produktion niederzulegen? Denn Salome im Strauss’schen Sinn ist nicht das Thema dieses Abends. Der Komponist beschrieb Salome als keusche Jungfrau, die nur mit einfachster, vornehmster Gestik gespielt werden darf. Die musikalische Umsetzung erfordere allerdings eine 16jährige Prinzessin mit Isoldenstimme.1

Philippe Jordan weiß die Partitur nicht in jenem Maß zu gestalten, wie dies — wir dürfen annehmen, in jahrzehntelanger, freundlicher Übereinkunft mit dem Komponisten — Clemens Krauss (London, 1947, bzw. Wien, 1954) oder Fritz Reiner (Metropolitan Opera, 1949) zuwegebrachten. (Der letzte, welchem im Haus am Ring ähnliches gelang, war Peter Schneider.) Der Musikdirektor des Hauses verantwortete eine undifferenzierte, vielfach zu laute, manchmal lärmende, über weite Strecken langweilige Wiedergabe der Partitur. Und das Staatsopernorchester folgte willig den Intentionen des Dirigenten … Nichts war’s also mit der von Strauss geforderten Mendelssohn’schen » Elfen-Musik «.

III.
Dies wiegt umso schwerer, weil Malin Byström in der Titelpartie stimmlich schon knapp nach Beginn am Ende war. Die lyrische Sopranistin forcierte vom ersten Ton an. Byström sang über weite Strecken undeutlich. Bei Phrasen, die auf den Buchstaben » n « endeten (wie » küssen « oder » Jochaanaan «) wurde der letzte Laut immer wieder nachgedrückt, nasal verstärkt. Eine jedem Versuch der Gestaltung einer gesanglichen Linie zuwiderlaufende Unart. Diese Salome teilte sie mit dem Herodes des Gerhard Siegel.

Wie’s heute (schlechter) Brauch, mangelt es auch Byströms Stimme am Fundament. Die Folge: Alle unterhalb des passaggio angesiedelten Phrasen wurden mehr oder weniger gesprochen. Diese Salome sang kaum eine Textzeile im notierten piano oder — Gott behüte! — pianissimo; wohl im Bestemm, gegen die Strauss’sche Instrumentation zu bestehen. Ein vergebliches Unterfangen. Der judäischen Prinzessin Staunen, ihre Verführung Narraboths wären gesanglich ebenso zu gestalten gewesen wie ihre Verwirrung ob der Tatsache, daß Jochanaan ihr in ihrer Stellung nicht gewähren will, wonach sie gelüstet. Im Ende sind es das plötzlich auf sich selbst Zurückgeworfensein dieses Menschenkindes, seine Überforderung mit der Situation, das schrankenlose Verlangen, welche des Propheten Weissagungen eintreten lassen.

Strauss äußerte sich zur Salome über die Dezenz der orientalischen Frauen, davon, daß diese Figur nur mit einfachster, vornehmster Gestik gespielt werden darf, soll sie nicht in ihrem Scheitern an dem ihr entgegentretenden Wunder einer großartige Welt statt Mitleid nur Schauder und Entsetzen erregen.2

» Salome «: Wolfgang Koch (Jochanaan) und Malin Byström (Salome) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Salome «: Wolfgang Koch (Jochanaan) und Malin Byström (Salome)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

IV.
Wolfgang Koch wurde eilig für die letzten Proben herbeigerufen, in der Eröffnungswoche den Jochanaan zu übernehmen. Leider blieb auch seine Gesangsleistung unter den Erwartungen. Bei lang zu haltenden Noten war langsames, störendes Vibrato nicht länger zu überhören. Spitzentöne wurden oft nur mit Mühe erreicht. Sie klangen heiser und unfokussiert an diesem Abend. Einzig Kochs Mittellage, zumeist im forte dargeboten, hielt, was der dem Sänger vorauseilende Ruf versprach. Dennoch: Es fehlte an der klanglichen Abstimmung zwischen dem Sänger und dem Dirigenten, sodaß Jochanaans Prophezeihungen, aus der Zisterne vorgetragen, teilweise kaum zu vernehmen waren.

V.
Auch Gerhard Siegel, der Herodes des Abends, setzte bei seinem Tun auf Einheitslautstärke. Doch ohne die Wechsel, das Herausarbeiten der vielen im piano oder mezzoforte notierten Passagen, die kleinen, manchmal unmerklichen und nur der Sprachmelodie geschuldeten Temporückungen versank auch dieser Herodes im Meer der gepflegten Langeweile. Michaela Schuster war als Herodias kaum zu verstehen. Ihrem Gesang fehlte das stimmliche Fundament. Da hörten wir in den vergangenen Jahren Besseres im Repertoire. Wer seinerzeit Elisabeth Kulman erlebte, weiß um die Gestaltungsmöglichkeiten dieser Partie.

VI.
Patricia Nolz steuerte die Stichworte des Pagen der Herodias bei, ohne einen solchen darstellen zu dürfen — da war der Spielvogt vor. Nolz: kein Alt, wie von Strauss verlangt. Ein weiteres perpetuiertes Mißverständnis einer Zeit, in welcher Stimmen unbarmherzig in die Höhe trainiert werden und man auf deren Fundament, die tiefe Lage, verzichten zu können glaubt. Das daraus entstehende Ungleichgewicht — einerseits in den Stimmen der Sänger, andererseits in der klanglichen Realisierung der Komposition — stört schon lange niemanden mehr. Nolz, die mir, je öfter ich sie höre, eher ein in der Höhe unterentwickelter Sopran denn ein Mezzosopran zu sein scheint, ist ebenso Betroffene wie Nutznießerin dieser Entwicklung. Daß die bereits in der Wilde’schen Vorlage angelegte, unterschwellige sexuelle Anziehungskraft Narraboths (nicht nur) auf den Pagen am Altar des Uninteressanten geopfert wird — wen kümmert’s? Teste scheint nicht daran gelegen. Seine Mission gilt der Darstellung der behaupteten Traumatisierung Salomes.

Daniel Jenz war ein anständiger, gut verständlicher Narraboth. Daß man diese Partie auch legato singen kann, wissen alle, die einstens Jörg Schneider lauschten.

Nicht unerwähnt bleiben darf der Erste Nazarener des Clemens Unterreiner. — Bei Cyril Teste treten die Nazarener als hochdekorierte Militärs auf und sitzen an der Tafel des Tetrachen. Warum, erschließt sich zwar weder aus der Partitur noch aus Testes Konzept, doch der Chefdramaturg des Hauses wird diese Notwendigkeit gewiß beredt zu argumentieren verstehen. (Wie konnten wir das bislang nur übersehen?) Clemens Unterreiner also: Er holt sich die Krone für die beste Gesangsleistung des Abends. Unterreiner weiß auf Linie zu singen (wenngleich er manchmal ein bisserl sehr am » Pedal steht «), die Stimme strömt. Sollten nicht eigentlich alle so klingen wie er?

» Salome «: Daniel Jenz (Narraboth) und Patricia Nolz (Page der Herodias) in der Vorstellungswelt von Cyril Teste © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Salome «: Daniel Jenz (Narraboth) und Patricia Nolz (Page der Herodias) in der Vorstellungswelt von Cyril Teste

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

VII.
Wie nicht anders zu erwarten, setzt die Direktion der Wiener Staatsoper ihren Irrweg der Stagione-Inszenierungen für ein Repertoire-Haus fort: Cyril Teste ward als Vertreter des » Konzeptes der filmischen Performance « eingeladen worden, eine Salome-Produktion zu ersetzen, welche nach den Worten des Direktors keiner Neuinszenierung bedurft hätte: Wenn man einen maßstabsetzenden Klassiker im Repertoire hat und nicht die Kraft spürt, mit etwas Neuem wieder Maßstäbe setzen zu können, hat man diese Klassiker in Ruhe zu lassen.3 Die Rache des Journalisten ist das Archiv.

Bühnenbildnerin Valérie Grall schuf für Teste ein Einheitsbühnenbild einer modernen, mondänen Villa bar jeder Atmosphäre. Dazu trug die helle Ausleuchtung von Julien Boizard ebenso bei wie die Allerweltskostüme von Marie La Rocca. Denn Testes Salome spielt in der Gegenwart. Daß es heute auf dem Gebiete Israels keine Prinzessin mehr gibt und diese, sollte man dennoch eine auftreiben, nicht mehr in der Sänfte herumgetragen wird — ficht große Geister nicht an. Ebensowenig, daß Herodes’ Wein wohl kaum von Cäsar stammen kann und die Kirchengeschichte nichts von einem Propheten Elias zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu berichten weiß. Und der Page der Herodias darf die Gäste des Tetrachen hinauskomplimentieren und sich selbst an der Tafel bedienen: — Wie herrlich weit wir’s doch gebracht!

Niemand nimmt mehr Anstoß daran, daß sich einer der vier obersten Machthaber des römischen Reiches (welches es selbstredend auch nicht gibt, nicht geben kann, nein, nicht geben darf in Testes Welt) vor seinen Gästen wie ein Wahnsinniger gebärdet, anstatt sich, wie von Strauss gefordert, im Spiel auf größte Einfachheit [zu] beschränken. An diesem Abend begegnet uns kein östlicher Parvenu, der darauf bedacht ist, vor seinen Gästen Haltung und Würde zu bewahren. Stattdessen muß sich der Herodes des Gerhard Siegel ein’s ums andere Mal auf den Boden werfen und wie ein dem Wahnsinn Verfallener gebärden. (Daß Teste ihm erst beim zweiten Herantreten an die Leiche Narraboths gestattet, im grellen Bühnenlicht angeblich in des Toten Blut zu treten und auszugleiten, darf man unter » unfreiwillige Komik « verbuchen.)

Dafür fehlt das filmische Element nicht, Koffer und Trenchcoat unseres Jahrhunderts: Der Spielvogt zeigt, live aufgenommen und auf den Bühnenhintergrund projiziert, wie Herodes gleich zu Beginn an der Tafel nach der Hand der neben ihm sitzenden Salome greift. (Die sexuelle Begierde des Stiefvaters muß ja irgendwie unter die Leut’ kommen.) Anstatt Herodes’ Verlangen nach Salome in seinen Blicken für alle sichtbar werden zu lassen, setzt der Spielvogt plump auf von der Musik und der Handlung ablenkende Filmsequenzen. Leider findet diese Begebenheit kein Echo im Text: Warum sieht mich der Tetrach fortwährend so an mit seinen Maulwurfsaugen unter den zuckenden Lidern?, singt Salome, nachdem sie das Bankett verlassen hat — von unzüchtigen körperlichen Annäherungsversuchen singt sie nicht.

Alles, was irgendwo mehr ist, ist anstelle von etwas anderem. Also erfand Teste eine, nein, zwei kleine Salomes: Margaryta Lazniuk, Mitglied der Opernschule, darf sie spielen, Anna Chesnova aus der Ballettakademie des Hauses darf sie im Tanz der sieben Schleier darstellen. (Für die langweilige Choreographie wird Magdalena Chowaniec genannt.) Das zusätzliche Personal sorgt für mehr Verwirrung denn Klarheit, denn der Witz der großen Szene zwischen Salome und Jochanaan besteht ja darin, daß die Prinzessin — wohl zum ersten Mal in ihrem Leben — ihren Kopf nicht durchsetzt, Jochanaan sich nicht berühren, nicht ansehen läßt. Doch Teste gesteht ebendas der kleinen Salome zu. Gleiches gilt für die Trauer um den sich selbst gerichtet habenden Narraboth, der zuvor extra seine Uniformjacke ausziehen muß, damit die kleine Salome sie überstreifen kann, ehe sie sie ihm über Gesicht und Brust legt.

Selbstverständlich verwehrt uns Teste auch den Kopf des Jochanaan (mag da Salome noch so oft davon singen): Wir müssen uns mit einer Gesichtsmaske zufrieden geben, welche sich der Henker auch noch vor das Gesicht halten muß. Und an die Stelle von Salomes Tötung mit Schilden tritt deren Erschießung. Die zwei Soldaten (anständig in Spiel und Gesang: Ilja Kazakov und Stephano Park) legen ihre Gewehre auf die gegen den roten Bühnenhintergrund schreitende Prinzessin an, während der letzte Akkord die Bühne in totales Dunkel taucht.

Egal. Denn zu diesem Zeitpunkt ist der Abend schon lange auf dramatisch hin.

  1. Richard Strauss: »Betrachtungen und Erinnerungen«. Herausgegeben von Willi Schuh. Piper Schott, 1989, ISBN 3-492-18290-9 (Piper), S. 219 ff.
  2. Ebenda.
  3. Bogdan Roščić: » Ganz große Oper «. Heinz Sichrovsky und Susanne Zobel in: News, 1/2017, S. 86

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