Richard Strauss: »Capriccio«
Theater an der Wien
Von Thomas Prochazka
II.
»Ein Schloß in der Nähe von Paris, zur Zeit, als Gluck dort sein Reformwerk der Oper begann. Etwa um 1775« stellten Clemens Krauss und Richard Strauss Capriccio, ihrem »Konversationsstück in einem Aufzug«, voran.
»Auf dem Schlachtfeld der Geschichte. Bilder aus vergangenen Zeiten tauchen auf, Geister Verstorbener kehren zurück.« Dies die ersten Worte der Handlung im Programmheft.
Spätestens jetzt wissen Opernfreunde, »Prima la scena, dopo la musica« wird die Losung einmal mehr lauten. Spielleiterin Tatjana Gürbaca fand in der Partitur, was allen, die Capriccio vor ihr inszenierten, entgangen war: »Capriccio ist ein Stück darüber, wie Menschen zwischen Kunst und Krieg hin- und hergerissen sind.« Ah — ja.
Wenn sich also im Theater an der Wien der Vorhang hebt, wird einem anstelle des »Gartensaales eines Rokoko-Schlosses« eine Treppe mit Toten, Tornistern und anderem Feldgerät vorgestellt. Die Zeit ist ca. 1942, unschwer zu erkennen am Kostüm der Schauspielerin Clairon mit ihrer Winifred Wagner-Frisur und einer Armprothese gleich des Kriegsversehrten Lothar Dombrowski, einem Charakter des Kabarettisten Georg Schramm. Olivier, der Dichter, erhebt sich mit einem tödlichen Herzschuß, während Flamand, der Musiker, den ganzen Abend mit einem Einschlußloch an der rechten Schläfe bestreiten wird.
Warum? Man weiß es nicht.
Noch während des grobschlächtig von Mitgliedern der Wiener Symphoniker vorgetragenen einleitenden Streichsextetts setzt sich der Graf und zieht umständlich einen Schuh aus und wieder an, nur um dem Publikum eine böse aussehende Wunde am Knöchel zu zeigen.
Warum? Man weiß es nicht.
Johannes Maria Bogner, der das Cembalo spielt, muß dies als Frau tun, verkleidet in einem Rokoko-Kleid. Überhaupt, einzig das Musikertrio mit Rémy Ballot (Violine) und Jörgen Fog (Violoncello) tritt an diesem Abend in Kostümen des Ancien Régime auf.
Warum? Man weiß es nicht.
II.
Bertrand de Billy, vor einem Jahr noch streitbarer Anwalt Richard Wagners, als er wegen eines beabsichtigten Striches von 90 Sekunden das Dirigat des Lohengrin im Haus am Ring zurücklegte, kapitulierte zwischenzeitlich. Anders ist seine Mitwirkung an dieser Produktion nicht zu erklären, auch wenn er dem p.t. Publikum im Interview mit der Wiener Zeitung vorauseilend ausrichtete: »Ob eine Regie auch ein paar Buhrufe ernten könnte, darüber denken wir hier am Theater an der Wien nicht nach. Ich kann nur sagen, daß die Zusammenarbeit mit Gürbaca wundervoll ist. Wir waren uns schon vor einem Jahr über das Stück einig, auch darüber übrigens, dass es nicht in der NS-Zeit spielen würde; es wird kein Nazi auf die Bühne kommen.« Ah — ja.
Es geht eben nichts über Konsequenz.
III.
Der geneigte Leser weiß schon, worauf’s hinausläuft: Unter dem Deckmantel der Freiheit der Kunst wird dem Publikum eine Scene vorgestellt, welche die Partitur höhnt und kaum etwas von dem, was von den Schöpfern beabsichtigt war, erlebbar macht. Willi Schuh (1900–1986), NZZ-Redakteur, Musikwissenschafter und Richard Strauss-Biograph, bemerkte in einem Brief anläßlich der Inszenierung von Johannes Schaaf bei den Salzburger Festspielen 1985, daß jede Verlegung »angesichts der sehr genauen Datierung des Geschehens einfach grotesk ist.«
Der Eintritt der Gräfin in den »Gartensaal eines Rokoko-Schlosses« beispielsweise erfolgt laut Partitur erst bei der Wiederholung des Streichsextett-Themas nach dem Gespräch zwischen Flamand, Olivier und dem Theaterdirektor La Roche, welcher das Sextett glücklich verschlafen hat. Andernfalls wird der Dialog zwischen den dreien sinnlos. Im Theater an der Wien verläßt Madeleine vom Hochgehen des Eisernen Vorhangs an die Bühne den ganzen Abend über nicht.
Warum? Man weiß es nicht.
Warum nach dem kaum ausgeführten Tanz alle männlichen Protagonisten über die Ballerina (Agnes Guk) herfielen und schließlich einer der Tänzerin ähnlich sehenden Puppe die Gliedmaßen ausrissen? Man weiß es nicht.
Selbstredend war vom intendierten, mit hohen Spiegeln ausgestatteten und von brennenden Kerzen hell erleuchteten Salon keine Spur. Und von Madeleines »großer Abendtoilette« ebenfalls nicht.
Auch war die Gräfin während ihres Monologs nicht allein, obwohl doch der Haushofmeister (bemüht: Christoph Seidl) Monsieur Taupe — mit flachem Tenor Erik Årman — zuvor davon in Kenntnis gesetzt hatte, daß alle Gäste bereits nach Paris abgereist waren: Flamand und Olivier stiegen die am Bühnenportal beginnende Treppe hinan, Umarmungen des Objekts ihrer Liebe inbegriffen.
Warum? Man weiß es nicht.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits »Regieeinfall« an »Regieeinfall« gereiht. Kaum zu glauben, daß man soetwas bei Ruth Berghaus, Peter Konwitschny, Martin Kušej und Christoph Loy lernt, wie uns die Spielleiterin in der April-Ausgabe der Zeitschrift Die Bühne stolz wissen ließ…
IV.
Zum Glück war es um die musikalische Seite des Abends besser bestellt. Unter Bertrand de Billy spielten die Wiener Symponiker im Graben zwar oft zu laut, aber doch mit einem Gefühl für die Strauss’sche Partitur. Die grob klingenden Streicher (besonders im einleitenden Sextett und der »Mondscheinmusik«) ließen einen allerdings wehmütig an die so oft geschmähten Orchesterleistungen im Haus am Ring denken…
Der fehlenden Dynamik war’s also geschuldet, daß die Sänger oftmals forcierten, wo Strauss ihnen piani zugedacht hatte.
Maria Bengtsson sang die Gräfin mit kernigem, leuchtenden Sopran. Daß man, ohne mitzulesen (oder den Text auswendig zu können) kaum ein Wort verstand, kann man ihr ebensowenig ankreiden wie ihrer Kollegin Renée Fleming, welche an manchen Abenden ebenfalls vor allem als Spezialistin für Vokalisen von sich reden macht. Der Graf war bei Andrè Schuen gut aufgehoben, der geforderte Konversationston kam ihm zupaß. Ob man selbiges auch von Mozartschen Kantilenen berichten dürfte, wenn jemand anderer als Nikolaus Harnoncourt am Pult steht? Daniel Behle als Musiker Flamand und Daniel Schmutzhard als Dichter Olivier sangen und spielten mit großem Engagement. Es könnte lohnen, sie einmal in der Inszenierung von Marco Arturo Marelli an der Staatsoper zu erleben.
Tanja Ariane Baumgartner ließ sich ansagen, ihre Leistung als Schauspielerin Clairon fiel im Vergleich zu ihren Kollegen allerdings kaum ab. Jörg Schneider demonstrierte in der Partie des italienischen Tenors als einziger Sänger des Abends, daß man auch Capriccio legato singen kann, seine Partnerin Elena Galitskaya schien froh zu sein, irgendwie über die Runden zu kommen.
Lars Woldt wußte mit seiner darstellerischen Präsenz bestimmt große Teile des Auditoriums als Theaterdirektor La Roche zu erfreuen. Daß er die Vokale oftmals je nach Sitz seiner Stimme zu färben gezwungen ist, wird nur jene Opernliebhaber stören, die die im Aussterben befindliche Meinung vertreten, wonach jede Rollengestaltung zuvörderst stimmlicher Natur zu sein hat.
»Regie versteh ich, das ist mein Metier«, singt La Roche gleich zu Beginn des Abends. Bei Tatjana Gürbaca darf man Zweifel anmelden.