Ludwig van Beethoven:
»Fidelio« (Fassung von 1805)
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
Zum ersten Niermeyer, weil sie der Erstfassung des Fidelio ihre Sichtweise auf die Welt überstülpte, ohne sich um die Intentionen Joseph Sonnleithners und Ludwig van Beethovens zu bemühen. Und zum zweiten Meyer, der nicht nur Niermeyer auswählte, sondern auch eine Sängerriege, welche zum überwiegenden Teil mit ihren Partien überfordert waren. Bei Meyer kommt noch hinzu, daß er — wider besseres Wissen — nicht müde wurde zu betonen, »dass es gerade in Wien berechtigt ist, die Urfassung zu spielen«.1 Er versprach dem Publikum die Fassung des Fidelio aus dem Jahr 1805 und setzte ihm anstelle dessen eine mediokre »Regietheater«-Fassung vor.
Denn muß man nicht, wenn in einer Oper alle Dialoge durch eine neue Texte ersetzt werden, wenn die Regisseuse eine zusätzliche Figur (Leonore — die Schauspielerin) einführt und wenn die verschiedenen Schauplätze in ein (an Scheußlichkeit kaum zu überbietendes) Einheitsbühnenbild (Alexander Müller-Elmau) verlegt werden, von einer Bearbeitung sprechen?
II.
Tomáš Netopil, der Dirigent des Abends, wird zitiert, man spiele »die Oper tatsächlich praktisch komplett ohne Striche und Kürzungen. Also, wenn man die Urfassung schon macht, dann wirklich die ganze Urfassung. Und keine Bearbeitung.«2 Hat der Mann während all der Proben nie in seine Partitur oder, später, auf die Bühne gesehen?
Denn, dies die tragische Komponente des Abends, Netopil und das klein besetzte Staatsopernorchester (mit drei Kontrabässen) eröffneten mit einer wunderbar, fein abgestimmten Ouverture — aus dem Konzertleben bekannt als Leonoren-Ouverture II. Auch im weiteren Verlauf des Abends gingen die Impulse durchwegs vom Graben aus. Dort wurde engagiert musiziert. Geradeso, als wollten Netopil und das Orchester beweisen, daß diese erste Fassung des Fidelio lebensfähig ist.
Für die ersten zwei Akte stimmt das. Der dritte, beginnend mit Florestans Rezitativ »Gott, welch Dunkel hier!« und Arie »In des Lebens Frühlingstagen« fällt gegen die Fassung von 1814 zu stark ab. Da findet sich in der Erstfassung zuviel »taubes Gestein«, hemmt den Fortgang der Handlung.
Auch der Staatsopernchor (Leitung: Thomas Lang) mit den beiden Gefangenen (Oleg Zalytskiy und Panajotis Pratsos) überzeugte. Chor und Orchester der Wiener Staatsoper unter Tomáš Netopil: die Aktiva des Abends.
III.
Jörg Schneider blieb als Jaquino in den ersten beiden Akten der einzige, der legato sang. Ganz im Gegensatz zu Chen Reiss, deren Marzelline gesanglich alle Wünsche offenließ. Ihre Stimme klang den ganzen Abend hindurch gequetscht; es war kaum ein Wort zu verstehen. Dafür bot Reiss Vokalverschiebungen zuhauf und gesungene Töne anstatt Phrasen. Was nützen mir die Schönheiten des (in der Fassung von 1814 gestrichenen) Duetts »Um in der Ehe froh zu leben« zwischen Marzelline und Leonore, wenn die gesangstechnischen Mängel der beiden Sängerinnen so groß sind, daß von einer Interpretation nicht die Rede gehen kann?
Falk Struckmann passierte als Rocco in der »Gold«-Arie das Mißgeschick, daß im ersten Refrain auf einmal der Text weg war. Wir wissen auch, daß Struckmann hin und wieder gesanglich poltert. Einige tiefe Töne kamen nicht mit jener Sonorität über die Rampe, wie es denn notwendig wäre. Doch Struckmann (er verzeihe mir) entstammt noch einer Sängergeneration, welche die Jahre ihrer Karriere wie ein Banner stolz vor sich herzutragen weiß. Die auch mit limitierten Mitteln eine Partie stimmlich interessant gestalten kann. (Und die Jungen alt aussehen lassen.)
IV.
Dahin werden, so steht zu befürchten, Samuel Hasselhorn als Don Fernando und Thomas Johannes Mayer als Pizarro nie gelangen. Beide Sänger begaben sich des Singens auf Linie, beiden Stimmen gebricht es an Volumen; ein sicheres Zeichen größerer gesangstechnischer Mängel. Wie soll uns ein Pizarro gefährlich erscheinen, wenn er den ganzen Abend hindurch gesanglich überfordert erscheint? Wenn seine Stimme nicht einmal über das klein besetzte Orchester »trägt«, wir ihn kaum hören können?
V.
Benjamin Bruns hatte es in der Partie des Florestan nicht einfach: Wie sollte er sich vom Publikum als Figur ernstgenommen fühlen, wenn er als erste Phrase »Gott, welch Dunkel hier!« zu singen hat, gleichzeitig aber ein Suchscheinwerfer von der Beleuchterbrücke aus über den Bühnenboden kreist und aus Kamingittern Streulicht dringt? Dazu kommt, daß die Erstfassung seiner Arie, wiewohl einfacher zu singen, noch nicht jenen F-Dur-Einschub, beginnend mit »Und spür’ ich nicht linde, sanft säuselnde Luft? Und ist nicht mein Grab mir erhellet?« enthält. (Beethoven »borgte« 1814 dafür die Melodie des Hauptthemas des ersten Satzes des Haydn’schen Trompetenkonzertes.)
Bruns’ Stimme besitzt einen Kern. Das macht ihn zwar nicht zum Spinto-Tenor, hilft ihm aber in Partien wie dieser, mit klarer Stimme hörbar zu bleiben. In lauteren Passagen wurde bei gehaltenen Tönen allerdings ein verstärktes, langsameres Vibrato hörbar. Ob nicht doch vielleicht mehr Mozart zu singen wäre?
VI.
Die Regisseuse verfiel auf die verrückte Idee, der Sängerin der Leonore deren Seele als zusätzliche Figur hinzuzugesellen. Jennifer Davis debutierte als Sängerin Leonore am Haus, die Schauspielerin Katrin Röver als deren Seele: Leonore — die Schauspielerin. Röver hinterließ — nicht nur bei den gesprochenen Texten — den besseren Eindruck, war viel präsenter; auch wenn sie in manchen Szenen nur stumm herumstand.
Jennifer Davis ließ vom ersten gesungenen Ton an einen überforderten lyrischen Sopran hören. Die Fidelio-Leonore ist in der Fassung von 1805 eine Partie für einen lyrischen Sopran. Allerdings für einen mit einer gut entwickelten unteren Stimmfamilie. Aber an deren Aktivierung mangelte es Davis den ganzen Abend über. Kein Wunder also, daß ihr Sopran nie das notwendige Volumen, die erforderliche Durchschlagskraft erreichte. Die Koloraturen in Leonores Arie »Komm, Hoffnung« klangen verschliffen und unsauber.
Ein erfolgreiches Debut hört sich anders an.
VII.
Amélie Niermeyer scheiterte an der Aufgabe, uns, dem Publikum, Beethovens erste Fassung des Fidelio vorzustellen. Ich kann nicht einmal feststellen, daß Niermeyer grandios scheiterte. Sie scheiterte kläglich: Ist doch die Idee der Verdopplung der Figur der Leonore ebenso hanebüchen wie jene, die originalen Dialoge durch neue, vorgeblich zeitgemäße und gesellschaftspolitische, von Moritz Rinke ersetzen zu lassen. Dessen Texte fügten sich nicht in die Handlung, sodaß die einzelnen Musiknummern für sich allein standen. Fidelio als Pasticcio.
In schlechtester Regie-Theater-Tradition bebilderte Niermeyer bereits die Ouverture. Später wurde auf der Bühne herumgestoßen und -geschubst, daß es eine Freude war. Oft mußten die Sänger Aktionen ausführen, welche dem gesungenen Text entgegengesetzt waren. Während sich Rocco und Leonore z.B. mühten, ein in den Boden eingelassenes Eisengitter mit einer Brechstange auszuhebeln, hatten sie »Nur hurtig fort, nur frisch gegraben« zu singen! (Sekundärer Analphabetismus?)
Höhepunkt des Unsinns war, daß Pizarro Leonore im Kerker einen tödlichen Bauchstich zufügte, obwohl diese ihn zuvor mit einer Pistole bedroht hatte. »Schieß doch, Mädel, schieß!«, wollte man ihr zurufen. Allein, die Regisseuse hatte kein Einsehen. (Wie in vielen anderen Szenen auch.)
So mußte eine sterbende und im letzten Bild nur mehr als Zombie an der Rampe stehende Leonore weitersingen, während Leonore — die Schauspielerin die laut Libretto Florestans Frau zugedachten Aktionen ausführte. Diese Dummheiten (noch dazu in den häßlichen Alltagskostümen von Annelies Vanlaere) waren dann sogar einem meistens wohlgesonnenen Premièren-Publikum zuviel des Schlechten.
VIII.
Dieser Abend, nehmt nur alles in allem: eine Zumutung.