Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Vom Singen, oder:
Wie entsteht eigentlich ein Ton?

Von Thomas Prochazka

Bei aller Individualität der menschlichen Stimme eint uns eines: das Entstehen eines Tones. Das Brüllen der Babies, das Schreien, die lautstarken Unter­haltungen der Kinder, der Operngesang, wie wir ihn von früher her kennen und lieben: Sie alle folgen denselben physikalischen Gesetzen. Doch wie entsteht eigentlich ein für die Opernbühne tauglicher Ton?

II.
Dieser Text soll Verständnis wecken dafür, wie bestimmte Muskel­gruppen im menschlichen Körper miteinander interagieren müssen, um einen richtigen und gesunden Opernton zu erzeugen. Dafür, daß die Anspannung ausgewählter Muskeln auch die Anspannung anderer Muskeln zur Folge hat, welche die Toner­zeugung negativ beeinflussen können. Und daß auch beim Singen die physikalischen Gesetze der Akustik und Strömungs­lehre gelten.

Es liegt in der Natur der Sache, daß diese Betrachtung an der Oberfläche bleiben muß. Die einzelnen Abläufe im Körper sind viel komplexer, als im folgenden dargestellt werden kann. Unzählige Bände wurden im Laufe der Jahrhunderte darüber verfaßt: von Stimmpädagogen, goßen Sängern und großen Lehrern. (Sie sind jedoch vielfach nur für den Fachmann von Interesse.)

III.
An der Produktion eines Tones ist, genau genommen, der ganze menschliche Körper beteiligt. Sänger betonen das immer wieder. Und doch gibt es ein paar Regionen, welche die Hauptlast tragen.

Da wären zum ersten der Brustkorb mit der Lunge, dem Zwerchfell und der unteren, hinteren Rippen­muskulatur. Das Zwerchfell und die Rippen­muskulatur wirken als Aktivator. Dabei agieren diese zwei Muskel­gruppen gegeneinander. Sie müssen bei der Toner­zeugung im Gleich­gewicht gehalten werden. Die Spannung dieser Muskel­gruppen wird beim Einatmen aufgebaut und sollte sich bei der Tonerzeugung nicht ändern.

IV.
Im Kehlkopf befinden sich die Stimmbandmuskeln mit den daran befestigten Stimmlippen, im allgemeinen Sprach­gebrauch (fälschlicherweise) »Stimm­bänder« genannt. Sie sind der Vibrator. Schließen die Stimm­bänder, wird der Luft­strom in die Luftröhre bzw. von der Luft­röhre und der Lunge unterbrochen.

Die Längenänderung der Stimmbänder erfolgt durch die Aktivierung von am Kehlkopf ansetzenden Muskeln. Wird dadurch in den Stimmbändern Spannung aufgebaut, verkürzen sie sich. Die kombinierte und koordi­nierte Bewegung bestimmt also die Tonhöhe: Diese steigt, wenn sich die Muskel­spannung erhöht und sich die Länge der Stimm­bänder verringert.

Hier, im Kehlkopf, entsteht der Ton.

V.
Der Rachen dient als Resonanzraum. Er besteht (wiederum grob vereinfacht) aus dem Hals­rachen (»Laryngeal part of pharynx« in der Abbildung), dem Mundrachen (»Oral part of pharynx«) und dem Nasenrachen (»Nasal part of pharynx«). Für eine gute Gesangstechnik soll fast ausschließlich der Halsrachen der Verstärkung des Tons dienen, nicht die Mundhöhle.

Die Bereiche des Rachens bestehen vornehmlich aus weichem Gewebe. Dadurch werden bestimmte Oberschwingungen des Grundtones mehr oder weniger stark verstärkt, während andere gedämpft werden. So entsteht das squillo (manchmal auch »Sängerformant« ge­nannt). Sind diese Ober­schwin­gungen im Bereich von ca. 2,3 kHz bis 3 kHz gut aus­geprägt, bedeutet das, daß die Stimme auch über einem Orchester gut hörbar bleibt; »trägt«.

Eine nicht unwesentliche Rolle beim Singen kommt auch der Zunge zu. Deren Muskeln müssen so aktiviert werden, daß Form und Größe des Halsrachens (der Bereich direkt über dem Kehlkopf) konstant bleiben. Der von Beobachtern bei einzelnen Sängern immer wieder konstatierte »dunkle, samtige Ton« (gerne wird als Vergleich »schwerer Rotwein« bemüht) entsteht, wenn die Zunge in den Halsrachen »rutscht« und so den ungehinderten Luftstrom erschwert. Dieser künstlich erzeugte, dunkel klingende Ton stellt also in Wahrheit einen stimmtechnischen Mangel vor.

Schnitt durch Nase, Mund, Kehlkopf und Rachen. Illustration: Henry Vandyke Carter, in: Henry Gray: »Anatomy of the Human Body«, Lea and Febiger, Philadelphia and New York, 1918. Public Domain (via Wikimedia Commons)

Schnitt durch Nase, Mund, Kehlkopf und Rachen. Illustration: Henry Vandyke Carter, in: Henry Gray: »Anatomy of the Human Body«, Lea and Febiger, Philadelphia and New York, 1918.

Public Domain (via Wikimedia Commons)

VI.
Die Resonanzräume sind bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Daraus (und aus deren Zusammenspiel) läßt sich folgern, das jede Stimme anders klingen sollte — ähnlich vielleicht, doch anders. (Hausaufgabe: Wieso klingen heute die meisten Stimmen eines Stimm­typus gleich? Warum ist eine Sopranistin von ihrem Klang her kaum von einer anderen zu unterscheiden?)

Für die Erzeugung eines kräftigen und ebenmäßigen Tons müssen also nicht nur die oben geschriebenen Muskelgruppen für sich, sondern auch miteinander ins Gleichgewicht gebracht (und gehalten!) werden.

VII.
Beim (klassischen) Gesang geht es darum, die Energie in den Kehlkopf zu lenken. In der Gesangsausbildung wäre als erstes daran zu arbeiten. Das Ziel ist die Erzeugung einer möglichst großen Stimmamplitude über den kompletten Stimmumfang.

Doch ebendiese Amplitude verminderte sich seit dem Ende des zweiten Weltkrieges merklich: langsam zuerst, doch in den letzten Jahrzehnten immer schneller. Stimmen klei­neren Kalibers — und, zusätzlich, von lockerer Struktur als jene der Sänger früherer Genera­tionen — führten dazu, daß uns heute viele Opernaufführungen gesanglich nicht mehr emotional fesseln.

Für das Kaliber einer Stimme sind drei Dinge ausschlaggebend: die Erzeugung der Schwingung selbst; die Wider­stands­fähigkeit gegen den Druckaufbau in den Atem­wegen; und — am wichtigsten für den Reichtum und die Laut­stärke des Tons — die richtige Ab­stim­mung der beteiligten Muskel­gruppen des Vokal­traktes. Für die ersten beiden Punkte sind die Stimm­bänder selbst zuständig, für den dritten die richtige Kehlkopfposition.

VIII.
Die heute am meisten verbreiteten Mängel im Gesang sind die falsch verstandene Lockerheit der beteiligten Muskelgruppen, die auf eine unzureichende Stütze zurückzuführen ist, sowie die Absenz eines »Stimmkerns« und der Brillanz. Beides sind Zeichen mangelnder ener­ge­tischer Aktivierung der Kehlkopf- und sowie der ihn umgebenden Muskeln.

Im Vergleich zu den Muskeln im Kehlkopf sind die Kiefer- und Nackenmuskeln sehr stark. Spannt ein Sänger — fälschlicherweise — letztere an, um den Ton anstatt im Kehlkopf mit dem Mund zu formen, verspannen sich auch die Zunge und die Kehlkopfmuskeln. Diese falsche Muskelspannung strapaziert die Kehlkopfmuskeln über Gebühr und führt zu vorzeitigen stimmlichen Verschleißerscheinungen.

IX.
Leider ist nicht alles, was sich für den Besucher auf der Opernbühne oder auf Aufnahmen gut anhört, auch technisch richtig gesungen. Wir erleben heute Sänger, die einen lang gehal­tenen Spitzenton im pianissimo hören lassen, deren Stimme jedoch keine große Präsenz eignet; oder deren Timbre uninteressant ist. Obwohl solche Effekte durchaus aner­kennens­werte technische Fertig­keiten darstellen, können sie von Stimmen ausgeführt werden, die in ihrer Struktur ungleichmäßig geartet, sehr eingeschränkt oder unzureichend entwickelt sind.

Derartige Effekte sind nämlich, auch wenn das von den Anhängern dieser Sänger und dem überwiegenden Teil der Bericht­erstatter anders gesehen wird, allzu selten ein Zeichen guter Gesangs­technik. Dabei denke ich noch nicht an Fertigkeiten wie ein korrekt aus­geführtes messa di voce — dem kontinu­ierlichen An- und Ab­schwellen eines Tones mit dem dimi­nuendo beim Abschwellen — oder das richtige mezza voce.

Ich wäre schon froh, dürfte ich Abend für Abend Stimmen mit kräftigem, ebenmäßigen Ton vom piano bis zum forte, korrekt gesungenen Vokalen und ohne merkbare Schwäche über den gesamten Stimm­umfang lauschen. Die gesangs­technischen »Effekte« ließen sich, bei gleichzeitiger Kultivierung von legato und portamento in diesen Stimmen, danach gewiß erlernen.

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