Philippe Jordan, Musikdirektor der Wiener Staatsoper, bei seinem ersten Abonnement-Konzert am Pult der Wiener Philharmoniker © Wiener Philharmoniker/Terry Linke

Philippe Jordan, Musikdirektor der Wiener Staatsoper, bei seinem ersten Abonnement-Konzert am Pult der Wiener Philharmoniker

© Wiener Philharmoniker/Terry Linke

Philippe Jordans Debut bei den Wiener Philharmonikern

Musikverein Wien

Von Thomas Prochazka

Gut Ding braucht manchmal Weile. 2004 leitete Philippe Jordan erstmals die Wiener Philharmoniker — in Così fan tutte bei den Salzburger Festspielen. An diesem Wochenende debutierte der Musikdirektor der Wiener Staatsoper im philharmonischen Abonnement. Am Programm standen Arnold Schönbergs Verklärte Nacht, op. 4, und Richard Strauss’ Eine Alpensinfonie, op. 64. COVID-19-bedingt ohne Saalpublikum.
Ein gelungenes Debut.

II.
Schönbergs Verklärte Nacht für Streichsextett, op. 4, entstand 1899 in nur drei Wochen auf ein Gedicht von Richard Dehmel; zur Zeit der erblühenden Liebe zu Mathilde, der Schwester seines einzigen und nur um drei Jahre älteren Lehrers Alexander Zemlinsky.

Das Werk wurde 1902 im Brahms-Saal vom verstärkten Quartett Rosé1 uraufgeführt. 1917 erfolgte die Adaption für Streichorchester, vor allem durch das Hinzufügen einer Kontra­baß­stimme zur Verstärkung der Celli. Schönberg schrieb am 28. Mai 1919 in einem Brief an Rosé: »Kammermusik für 50 Leute im Zimmer, für mehr als 50 aber in orchester­mäßiger Besetzung…« 1943, ein Jahrzehnt nach seinem Fortgang aus Österreich und zwei Jahre nach der Annahme der amerikanischen Staats­bürger­schaft, adaptierte Schönberg sein Werk nochmals geringfügig.

Die Verklärte Nacht ist Programmmusik, wie der Komponist selbst feststellte. Die Kenntnis des Dehmelschen Textes hilft. Die fünf pausenlos aufeinanderfolgenden Abschnitte folgen dem Gedicht: Zwei Liebende gehen durch mondhelle Nacht. In der zweiten Strophe gesteht die Frau ihrem Liebhaber, das Kind eines anderen unter dem Herzen zu tragen. Er nimmt es an als seines: »Du wirst es mir, von mir gebären.«

Philippe Jordan dirigiert mit eckigen, kantigen Bewegungen. Die Interpretation klingt kräftig, doch sehr markiert. Nachdrücklich. Dynamisch nicht immer so fein abgestimmt wie erhofft. Mit ein paar Längen am Ende des zweiten, im Übergang zum dritten Abschnitt. Da stockt der musikalische Fluß, gerät die Übung (in Maßen zwar, aber doch) akademisch. Zerfällt ein bissel. Aber dann: der Eintritt in den vierten Abschnitt mit seinem D-Dur, ohne Zweifel der Ausdruck der Liebe Arnold Schönbergs zu Mathilde Zemlinsky. Schönberg ließ sich Zeit, Jordan läßt sich Zeit, die Philharmoniker, geführt von Fedor Rudin, folgen. Und plötzlich ist alles gut. Das Finale mit den geteilten Streicherstimmen verklingt im Nichts.

Der Anfang ist gemacht.

III.
Nach der Pause dann Richard Strauss: Eine Alpensinfonie, op. 64. Da ist Jordan mehr zuhause, da fühlt er sich hörbar wohler. Auch seine Dirigierbewegungen werden geschmeidiger. Das hilft (nicht nur) dem musikalischen Fluß.

Diese Wiedergabe besticht nicht durch jene Feinabstimmung, die man auf Herbert von Karajans legendärer Einspielung mit den Berliner Philharmonikern hören kann. Sie will sich auch nicht messen mit der rationalen eines Christian Thielemann (Salzburger Festspiele 2011) oder der akribisch geprobten eines Mariss Jansons (Wiener Festwochen, Mai 2001). Sie steht für sich.

Jordan und die Wiener Philharmoniker musizieren: Man spürt förmlich die Lust, die Freude am gemeinsamen Spiel. Das zählt ebenso viel; wenn nicht mehr. Offenbart die Vielfalt der möglichen Interpretationen. Schon gar in Zeiten, in welchen Live-Streams von Konzerten oft an Leichenbegängnisse denken lassen. Am Schönsten klingt’s halt immer an der Grenze zum Scheitern.

Der Sonnenaufgang gerät zum ersten Höhepunkt. Ob da noch eine Steigerung möglich sein wird? Von fern klingen die Jagdhörner, der Gletscher naht — mit diesmal dynamisch nicht allzu gefährlichen Spalten… Die Solo-Oboe des Sebastian Breit: Sie klingt auf dem Gipfel nicht ganz so frei im Vortrag wie bei seinen großen Vorgängern. Noch merkt man ein bissel das Zögern vor dem tempo rubato — doch das wird sich mit den Jahren der Erfahrung geben. Die Vision schließlich bringt die stärkste Steigerung. Sie gelingt: Und auf einmal ist der Goldene Saal nur mehr Musik… — Dann Abstieg, Gewitter, Sonnenuntergang. Auf einmal klingen vier Flöten wie eine große, phrasieren völlig synchron: Auch das ist ein Wunder.

IV.
Vielleicht ist man ja als Zuhörer sensibilisiert in diesen Zeiten. Dennoch: Konzerte in dieser Qualität hört man auch in Wien nicht alle Tage. Philippe Jordan und die Wiener Philharmoniker hätten sich bei den geplanten vier Terminen volle Säle verdient.
Denn ja, es war ein gelungenes Debut.

  1. Das Quartett Rosé (Arnold Rosé, Albert Bachrich, Anton Ruzitska und Friedrich Buxbaum) wurden durch Franz Jelinek (2. Viola) und Franz Schmidt (2. Cello), beides »Mitglieder des k. k. Hof-Opernorchesters«, verstärkt.

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