Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Anmerkungen zum Wettbewerb »BBC Cardiff Singer of the World 2019«

Von Thomas Prochazka

Wollte man erfahren, woran es in der Oper im 21. Jahrhundert krankt: der Gesangswettbewerb »BBC Cardiff Singer of the World 2019« gäbe die rechte Antwort: Denn keiner der Teilnehmer erfüllte jene stimmtechnischen Anforderungen, deren Beherrschung doch für eine lang andauernde Karriere unabdingbar ist.

II.
Wenn im folgenden von einzelnen Teilnehmern die Rede gehen wird, dann nicht, um jene ins schlechte Licht zu setzen. Sondern um den Verfall des Operngesangs aufzuzeigen, nach den Ur­sa­chen zu forschen. Denn dieser Verfall setzte nicht erst mit den letzten Generation, in den letz­ten zwanzig Jahren, ein, sondern bereits in den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Und er kam schleichend. Je mehr in den Plattenstudios manipuliert werden konnte, desto kleiner wur­den (oder machten sich) die Stimmen. Conrad L. Osborne, seit sechs Jahrzenten Sänger, Lehrer und Kritiker der internationalen Opernszene, gesteht in seinem Buch »Opera as Opera« dem Otello des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Plácido Domingo, ⅔ des Kalibers eines Franco Corelli zu.1

Die für diesen Beitrag zum Vergleich herangezogenen Einspielungen stammen daher nicht ohne Grund aus einer Zeit, als Aufnahmen noch nicht editiert werden konnten (wie dies bis in die 1930-er Jahre der Fall war). Eine Rosa Ponselle, eine Ebe Stignani, ein Mattia Battistini ar­bei­te­ten mit jenen Leuten (z.B. Arturo Toscanini), welche die letzten Komponisten unseres großen Werk­ka­nons noch persönlich gesprochen, von ihnen gelernt hatten. Man darf daher mit Fug und Recht annehmen, daß diese alten Aufnahmen authentischer sind als jenes, über die Ge­ne­ra­tio­nen doch nur teilweise weitergegebene Wissen.

Zurück zum »BBC Cardiff Singer of the World«, dem alle zwei Jahre ausgetragenen Gesangs­wett­bewerb. Viele der Teilnehmer stehen bereits an Opernhäusern im Engagement. Das Durch­schnitts­alter der Sänger liegt bei knapp 30 Jahren. In diesem Alter waren die Großen der Ver­gangenheit bereits seit Jahren als Stars an den ersten Häusern der Welt be­kannt und ver­ehrt.2 Doch von fertig ausgebildeten Stimmen, welche in der Lage sind, das Repertoire des erweiterten 19. Jahr­hun­derts (»E-19«)3 wie von den Komponisten gedacht zu interpretieren, konnte heuer keine Rede sein.

III.
Da wäre zum Beispiel Lena Belkina (31): Die aus der Ukraine stammende Mezzo-Sopranistin stand in der Saison 2018/19 als Teseo in Händels gleichnamiger Oper und als Johanna in Tschai­kowskis Die Jungfrau von Orleans im Theater an der Wien auf der Bühne. 2015 und 2017 veröffentlichte sie zwei CDs auf Sony Classical. In Cardiff reichten Belkinas Darbietungen nicht für das Finale. 

Camille Saint-Sæns »Mon cœur s’ouvre à ta voix« aus Samson et Dalila konnte (oder wollte) die Ähn­lich­keiten mit Elīna Garančas Interpretation nicht verleugnen: Da wie dort mangelte es an Ge­stal­tungs­willen. (Man unterdrücke den Fan-Impuls zum Widerspruch und höre sich die im Inter­net verfügbaren Aufnahmen an.) Belkina beschränkte sich auf gesangliche Un­ver­bind­lich­keit, wo Verführung mit der Stimme gefordert war. Und wer hätte angesichts dieses Vortrags gedacht, daß Saint-Sæns in der Partitur Andantino vermerkt hatte? Ich weiß, ich wie­der­hole mich: Aber ohne koordinierte Aktivierung der Bruststimme fehlt das Fundament; ge­rät die Stimme als solches aus der Balance. Man höre sich zum Vergleich eine (allerdings auf Ita­lie­nisch gesungene) Auf­nahme aus dem Jahr 1936 der damals etwa gleichaltrigen Ebe Stigani (1903 – 1974) an: welche Klarheit im Ton, welch meisterhafte Behandlung des Brustregisters und der Verbindung mit der oberen Stimmfamilie!

IV.
Roman Arndt (31) aus Omsk in Sibirien teilte Belkinas Schicksal. Allerdings mit dem Un­ter­schied, daß Arndts Stimme als einzige aller Finalteilnehmer natürlich klang. Er bot — unter an­de­rem — Alfredo Germonts Arie »De’miei bollenti spiriti« aus La traviata. Nicht feh­ler­frei: Auch Arndt sang mit (zu) hohem Kehlkopf, beraubte seine Stimme damit eines Teiles ihrer Durchschlagskraft. Allerdings sang er mit hörbarem legato; — als einziger, nimmt man die Vi­deos der Vorrunden zum Maßstab. Wäre die Jury also Richard Wagners wichtigsten An­for­de­run­gen an einen Sänger gefolgt: Arndt hätte ins Finale einziehen müssen. Doch Ge­sangs­wett­be­werbe folgen eigenen Gesetzen.

V.
Die südkoreanische Sopranistin Sooyeon Lee, Absolventin der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien im Fach »Operngesang«, erreichte das Finale. In der Vorrunde trug die 30-jährige »Il dolce suono ... Spargi d’amaro pianto« aus Lucia di Lam­mer­moor vor. Diese Partie sang Lee bereits als Ensemble-Mitglied des Oldenburgischen Staats­thea­ters. (In der Endrunde folgten dann »Caro nome« aus Verdis Rigoletto und »Ah! non credea mirarti … Ah! non giunge« aus Bellinis La sonnambula.)

Hier wie da dasselbe Bild: eine Stimme ohne Kern und ohne Verankerung im tiefen Register; und dementsprechend schwach ausgebildeter Mittellage. Im Allegro moderato von »Caro nome« schleichen sich Fehler ein, ändert Lee die Gesangslinie entsprechend ihrer Befindlichkeit. Legato? Kaum vorhanden. Sollten eingelegte, in der Partitur nicht verzeichnete fiorituri und acuti dafür ent­schä­digen? Das Gemeine an dieser Arie: Obwohl die tessitura zumeist hoch liegt, gibt es Phra­sen, die den Abstieg der Stimme bis zum tiefen Sopran-›e‹ oder -›fis‹ erfordern. Und in die­sen Pas­sa­gen zeigten sich (unter anderem) Lees Mängel: die Mittellage (direkt über dem passaggio) klang schwach, Bruststimme war so gut wie keine vorhanden. Außerdem sang Lee die Koloraturen der Lucia mit dem Unterkiefer und der Zunge (ein »no-go«!).

Jene, welche die Kopfstimme zu weit nach unten führen, werden an den Konsequenzen in der Höhe zu leiden haben.

The »Displacement Rule«. Conrad L. Osborne, »Opera as Opera«

Das wird auch nicht für eine lange Karriere in Oldenburg reichen. Conrad L. Osbornes »Ver­schie­bungs­regel« (»Displacement Rule«) betreffend den Umstand, daß viele Sängerinnen aus dem Grund man­gelhaft entwickelter Mittellage und Bruststimme die Kopfstimme viel zu weit in die Tiefe zu erweitern suchen, nimmt Lees Zukunft vorweg: »Jene, welche die Kopfstimme zu weit nach unten führen, wer­den an den Konsequenzen in der Höhe zu leiden haben.«4

VI.
Gewinner des Wettbewerbes wurde der Ukrainer Andrei Kymach (31). Er beendete 2018 seine Aus­bildung im Bolshoi Young Artist Program und wird bereits von Askonas Holt vertreten. (So schnell kann’s gehen.)

Kymach beschloß seinen Vortrag mit Enricos Szene »Cruda, funesta smania ... La pietade in suo favorea« aus Lucia di Lammermoor. In Einheitslautstärke vor­ge­tra­gen, mit andauerndem Druck auf die Stimme. Legato? Fehlanzeige. (Übrigens: Auch Triolen kann man legato singen.) Intonation? Meistens zu tief. Musikalische Gestaltung? Wenig. Länger ge­hal­tene (sostenuto) Töne begannen zu »wackeln«. Dafür wurde, wer hinhören wollte, des öf­te­ren Zeuge wechselndem Stimmsitzes und der damit verbundenen Auf­hel­lung oder Ab­dun­ke­lung der Stimme.

Wer wissen will, wie diese Arie auch klingen kann, nein, gesungen werden sollte, muß sich woanders umtun. Er sei auf eine Aufnahme von Mattia Battistini (1856 – 1928) aus dem Jahr 1912 verwiesen. Der Vergleich mit dem »König der Baritone« macht sicher. 

VII.
Das Problem ist nicht, daß es Gesangswettbewerbe gibt.

Das Problem ist, daß dem Publikum vor­ge­gau­kelt wird, daß, wer einen oder mehrere der be­kann­ten Wettbewerbe gewinnt (oder deren Finale erreicht), ein guter Sänger ist. Doch das trifft nur in Ausnahmefällen zu.

Der Rest — ist Marketing der Agenturen. Und, glaubt man der immer noch streit­baren Brigitte Fassbaender, »die Besetzungsmachenschaften von Leuten, die von Stimmen über­haupt nichts mehr verstehen. Und die eben nur mehr nach Äußerlichkeiten gehen und ty­pen­mäßig besetzen.«5

  1. »In the fall of 1968, I attended a performance of Adriana Lecouvreur, with Franco Corelli as Mau­rizio. Less than two weeks later I returned for Plácido Domingo’s met debut in the same part. Having seen Domingo in several roles with the New York City opera, I was sure the de­but would be successful, and so it was: smooth, warm singing with a fine glow, and quite suff­icient resonance for the house. Still, here was a comparison of the two-Mazeppas sort—same role, same hall, same sets, same orchestra and conductor, all heard from the same seats and only a few days apart—and I was left with this equation: 1 Domingo = ⅔ Corelli.«
    Conrad L. Osborne: »Opera as Opera. The State of the Art«; Proposito Press, 2018, ISBN 9780999436608; S. 324.)
  2. Tebaldi debutierte mit 21 Jahren, Bergonzi mit 22 (als Bariton) bzw. 25 (als Tenor); Bastianini mit 22 (als Baß) und 28 (als Bariton); Siepi mit 18 Jahren. Alle wurden innerhalb von drei bis vier Jahren internationale Stars; und klangen unverwechselbar wie Tebaldi, Bergonzi, Bastianini und Siepi. (Zitiert nach Osborne, S. 356.)
  3. Osborne bezeichnet in »Opera as Opera« die Zeitspanne von Mozart bis Richard Strauss als das erweiterte 19. Jahrhundert; kurz: »E-19«.
  4. The Displacement Rule: »She who violates it at the bottom shall suffer the consequences at the top.« (Osborne, S.. 352)
  5. »Oper — das knallharte Geschäft.« Ein Film von Stefan Braunshausen. ZDF/3sat, Juni 2019 [23:33]

34 ms