Claude Debussy:
»Pelléas et Mélisande«
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
Das Werk des Franzosen Debussy: Abneigung gegen das Althergebrachte, »die klassische Durchführungstechnik […], deren Schönheit rein technischer Art ist und außer den Mandarinen unserer Kaste keinen Menschen interessiert.« … Eine betonte Schlichtheit wohnt Debussys Musik zu Pellèas et Mélisande inne. Selbst dort, wo das Orchester groß aufspielt. … »Blaue Musik«: immer wieder dies die erste Reaktion Fremder, nach ihren Eindrücken befragt. Und »blau« auch Marco Arturo Marellis Inszenierung, Wasser nicht nur imaginierend.
Vor auf den Tag genau 29 Jahren dirigierte Claudio Abbado die Première der Vorgänger-Inszenierung von Antoine Vitez in Bühnenbild und Kostümen von Yannis Kokkos. Abbado sinnierte über die Gemeinsamkeiten von Pelléas et Mélisande mit Mussorgskis Boris Godunow und Bergs Wozzeck: Singuläre Bühnenwerke alle drei, und die einzigen fertiggestellten der jeweiligen Komponisten. »Rigorose Sorgfalt in der Ausführung«, konstatierte Abbado seinerzeit. Die Neuerungen im musikalischen Diskurs ihrer Zeiten fänden sich konzentriert in diesen Werken. — Und wirklich: Nimmt Pelléas et Mélisande nicht eine singuläre Stellung im Opernkanon ein?
III.
Pelléas et Mélisande: Ergebnis zehnjährigen Ringens um die richtige Form, inklusive der fast bis zum Duell gehenden Entzweiung zwischen dem Autor Maurice Maeterlinck und »Herrn de Bussy« (Maeterlinck am 8. August 1892 in einem Brief an den Vermittler Henri de Régnier, in welchem er Debussy »jegliche Autorisation« für Pelléas et Mélisande erteilt). Uraufführung an der Opéra Comique am 30. April 1902.
IV.
Marco Arturo Marelli zeichnete für Spielleitung, Bühnenbild und Licht verantwortlich. Dagmar Niefind steuerte die Kostümentwürfe bei — wie auch schon bei den Vorgängerproduktionen dieser Arbeit an der Finnischen Nationaloper in Helsinki (Première am 23. März 2012) und der Deutschen Oper Berlin (Première am 10. Oktober 2004).
Marelli wandelt auf den Spuren Jean-Pierre Ponnelles, dessen Inszenierungen zu L’Italiana in Algeri für die Scala, die Metropolitan Opera, das Bayerische Nationaltheater und die Wiener Staatsoper sich nur in Nuancen unterscheiden. Oder Franco Zeffirellis, dessen sehr ähnliche La bohème-Produktionen seit Jahrzehnten viele Opernfreunde in Milano, New York, San Francisco und Wien erfreuen. … Bewährtes wiederzuverwenden bzw. weiterzuentwickeln — mag man’s Marelli verwehren? Daß Opernfanatiker diesem Umstand vor der Zeit auf die Spur kommen würden, liegt in der Natur der Sache. Daß die Staatsoper es unterließ, die Umstände vorab in geeigneter Form bekanntzumachen: — läßlicher Einwand im Falle eines Erfolges.
V.
Wie aber war der Umriß des Abends? Ward’s ein Erfolg? Und wie wäre solcher zu bemessen? Folgt man dem Publikum, war’s ein Erfolg.
Trotz Marellis Spielleitung.
Diese war gut, aber falsch. Die Personenführung stringent, aber an falschen Orten. (Ja, das war es.)
Wenn Pelléas Mélisande aufsucht und sich ihr Haar, am Fenster heruntergelassen, in der Weide davor verfängt, sitzt Olga Bezsmertna am Kiel eines aufgebockten Bootes, während Adrian Eröd als ihr Pelléas am Boden kauert, eher er sich erhebt und von hinten nähert. … Wenn Golaud Pelléas zu den Zisternen des Todes führt, erschauert dieser, weil sich ihm gespannte Gewehrläufe von im Libretto nicht vorkommenden Briganten entgegenstrecken…
Auf der einen Seite auf der Suche nach Abbildung der Wirklichkeit (wenn König Arkel hinfällig im Rollstuhl und mit Infusionsflasche am Ständer gezeigt wird), kümmert’s niemand, daß der von Ynioldbesungene Hirt im Hintergrund die toten Schafe in einem Nachen über die Bühne fährt: Letzterer sich just immer bewegend, bevor der Hirt den Stecken ins Wasser taucht…
Infantilisierung (sprich: überflüssige Bebilderung und Dramatisierung des Gesungenen) allerorten. Zeichen der Zeit?
Im dritten Akt muß der Vorhang fallen, da sich die wie die Blende einer Kamera öffnenden Vorhänge ineinander verheddern. Kann es eine passendere Mahnung geben, technischen Schnick-Schnack hintanzustellen und sich auf das Wesentliche zu besinnen?
Wesentlich: ein großes Becken in der Mitte des Bühnenraums, kolportiert fast kniehoch mit 12,000 Liter Wasser gefüllt. Pelléas schwimmt darin, das Boot mit der darin sitzenden Mélisande navigierend, wo doch beide nur sich aufmachen sollten zur Grotte zwecks Beschreibung der zwecklosen Ringsuche.
Wesentlich: Marelli begibt sich damit des Zentrums der Bühne, muß Auf- und Abgänge von den Seiten konstruieren, vermag nur in einem Einheitsbühnenbild spielen zu lassen. Yniold: trägt Gummistiefel und darf durchs Wasser waten. Golaud: trägt Gummistiefel; — und darf nicht nur durch’s Wasser waten, sondern, wie Pelléas, sich im fünften Akt bis zum Hals darin tummeln…
Marellis Pelléas et Mélisande: Peter Grimes im imaginären Frankreich Maeterlincks.
VI.
Und die »blaue Musik«? Alain Altinoglu hatte die Aufgabe übernommen, eine neue Generation der Mitglieder des Staatsopernorchesters mit Debussys einzig vollendeter Oper bekanntzumachen. Dies gelang, nimmt man alles in allem, über weite Strecken ausnehmend gut. Nur zu Beginn war’s der Lautstärke manchmal zuviel. Zuviel … zuwenig Stringenz dafür in der Modellierung so manchen musikalischen Bogens (vor allem im vierten Akt), da drohte Langeweile aufzukommen. Auch folgte Altinoglus Interpretation nicht so sehr der lyrischen Sichtweise, wo doch feines Aquarell eher zu erwarten gestanden wäre denn manch kräftiger Pinselstrich. … Details? Vielleicht. Doch erwähnenswert.
VII.
Die Sängerbesetzung — Luxus pur: Franz-Josef Selig als schönstimmiger König Arkel und Bernarda Fink als Geneviève (mit nicht zu überhörendem Metall in der Stimme). Spielfreudig präsentierte sich Maria Nazarova als Yniold. Die Partie ist nicht groß, doch gerade in der Szene mit Golaud von nicht zu vernachlässigender Wichtigkeit. Simon Keenlyside ließ das Publikum bei seinem internationalen Rollen-Debut als Golaud ein weiteres psychologisches Portrait einer verzweifelten Seele sehen, stimmlich ohne Makel. Es ist immer eine Freude, diesem Sänger bei der Arbeit zusehen zu dürfen. Olga Bezsmertna sang die Mélisande mit zum Teil ätherischem Klang, bemüht um Ausdruck in jeder Szene ihrer nicht kleinen Partie. An ihrer Seite erfreute Adrian Eröd als Pelléas mit einer (nicht nur gesanglichen) Spitzenleistung.
VIII.
Pelléas et Mélisande an der Wiener Staatsoper: in dieser Besetzung eine Empfehlung.