Großes Festspielhaus, Salzburg (Detail). © Thomas Prochazka

Großes Festspielhaus, Salzburg (Detail).

© Thomas Prochazka

Immortal Performances:
» Tristan und Isolde « (Covent Garden, 1937)

Von Thomas Prochazka

Die Aufnahme, die nicht sein sollte: Kirsten Flagstad und Lauritz Melchior unter Sir Thomas Beecham im Juni 1937, dem Finale der » Coronation Season «, am Royal Opera House Covent Garden.

II.
Flagstad und Melchior: für viele Opernfreunde das » Traumpaar «, in seinem vokalen Glanz seither unerreicht. Die Diskographie listet zehn verschiedene Mitschnitte der beiden, von Melchior als Tristan sogar 14. Die Immortal Performances Recorded Music Society (IPRMS) zählt in ihrem Katalog sechs Aufnahmen aus den Jahren 1935 bis 1943. Fast alle stammen von Saturday Broadcasts aus der alten Met unter Arthur Bodanzky.

Die Aufführungen im Royal Opera House Covent Garden im Juni 1937 wurden von Sir Thomas Beecham geleitet (dessen Einspielung von Bizets Carmen mit Victoria de los Angeles und Nicolai Gedda auch heute noch durch ihre klaren Strukturen, die elegante Phrasierung und den federnden Rhythmus besticht). Wie Richard Caniell, Chief Producer von Immortal Performances, im Begleitheft erzählt, wollte die britische EMI Tristan und Isolde mit Kirsten Flagstad aufnehmen. Allerdings ging im weiteren Verlauf einiges schief, sodaß die Firma im Ende ohne kompletten Mitschnitt dastand. So galt unter anderem die letzte Transferplatte des ersten Aufzuges vom 18. Juni 1937 (ab Treuloser Holder! als verloren. (Alle bisher erhältlichen Aufnahmen komplettierten den ersten Aufzug mit dem Mitschnitt vom 22. Juni, mit teilweise anderer Besetzung: Anstelle von Margarete Klose und Herbert Janssen als Brangäne und Kurwenal sangen Karin Branzell und Paul Schöffler. Vom dritten Aufzug überlebte nur die Aufnahme vom 22. Juni. Wie sich nach der Veröffentlichung des EMI-Sets herausstellte, stammten darin sogar der erste sowie große Teile des dritten Aufzuges vom 11. Juni 1936 und waren von Fritz Reiner dirigiert worden. Kein Ruhmesblatt für die Plattenfirma, welche erst nach dem Krieg eine erneute Einspielung mit Flagstad, diesmal im Studio unter Wilhelm Furtwängler und mit Ludwig Suthaus als Tristan, wagte. Doch da hatte Flagstad den Zenit ihrer Karriere bereits überschritten, sollte sich ein Jahr später von der Bühne zurückziehen.

Richard Caniell gelang es, für die vorliegende Fassung einen Mitschnitt des Finales des ersten Aufzuges vom 18. Juni 1937 aufzutreiben. Um Kirsten Flagstad und Lauritz Melchior in einer kompletten Einspielung unter Sir Thomas Beecham präsentieren zu können, entschloß sich die IPRMS zur Kombination mit dem dritten Aufzug vom 22. Juni. Auf einer Bonus-CD bietet diese Edition auch den zweiten Aufzug vom 22. Juni 1937.

III.
Ich habe mich aus mehreren Gründen für diese Aufnahme aus dem Juni 1937 entschieden:

  • Sie bietet von den historischen Aufnahmen das beste Klangbild.
  • Sie wurde von der EMI für eine geplante Veröffentlichung aufgenommen (und nicht nur als Mitschnitt einer Aufführung für eine Radio-Übertragung).
  • Die Aufführungen fanden abends statt, wenn Sänger in der Regel ihre besten Leistungen bringen.

Puristen mögen die Nase rümpfen, daß die IPRMS die Mitschnitte zweier Abende, noch dazu mit teilweise unterschiedlicher Besetzung, kombinierte. Die verbindenden Elemente bleiben Sir Thomas Beechams Dirigat, Flagstad und Melchior in den Titelpartien sowie die Tatsache, daß die Aufnahmen aus einer Vorstellungsserie stammen; mit nur vier Tagen dazwischen. Ergänzt um Ort und Zeit, scheint mir diese Einheit Argument genug. Außerdem legt Richard Caniell diese Umstände in der Beschreibung offen, sodaß man weiß, was einen erwartet.

Die von Immortal Performances vorgelegte Restaurierung eliminierte Schwankungen in der Tonhöhe ebenso wie unzählige Störgeräusche. Viele Obertöne vor allem der Violinen und der Sänger konnten zu einem großen Teil wiederhergestellt, dynamische Kompressionen (z.B. im fortissimo des Liebestodes) verringert werden. Das Klangbild ist für einen Live-Mitschnitt aus den späten 1930-er Jahren ausgezeichnet. Die Leistungen aller Beteiligten tun das ihre, um einen beim Zuhören das unvermeidliche Grundrauschen schon nach wenigen Minuten vergessen zu lassen.

IV.
Zum Musikalischen: Sir Thomas Beecham formte aus den Gesangsstimmen und dem Orchesterklang eine Einheit wie wenige Dirigenten nach ihm. Diese Kunst scheint uns abhandengekommen. (Einzig Carlos Kleiber ließ René Kollos Stimme bei der Abmischung der Studioaufnahme aus Dresden ähnlich einbetten. Etwas, daß Kollo Kleiber sehr übel nahm. Er beschwerte sich, daß man ihn im dritten Aufzug stellenweise gar nicht mehr höre.) Beecham und die Aufnahmeingenieure der EMI erzielten dieses Verschmelzen bei Live-Aufnahmen im Opernhaus und mit der 1937 zur Verfügung stehenden Aufnahmetechnik.

Richard Wagner · Tristan und Isolde · Melchior · Flagstad · Nilsson · Klose · Branzell · Janssen · Schöffler · Royal Opera Covent Garden · Sir Thomas Beecham · Immortal Performances IPCD 1042-4

Richard Wagner
» Tristan und Isolde «
Melchior · Flagstad · Nilsson · Klose · Branzell · Janssen · Schöffler
Royal Opera Covent Garden
Sir Thomas Beecham
Immortal Performances IPCD 1042-4

Die Verblendung der Stimmen mit dem Orchester, weil ungewohnt, verstört beim ersten Hören: Wir wissen um die Größe der Stimmen von Kirsten Flagstad und Lauritz Melchior. Erwarten in Kenntnis von Melchiors Wälse-Rufen die Schaustellung unendlicher vokaler Mittel. (Vor Flagstads Stimme kapitulierte übrigens auch Rosa Ponselle, als die beiden Damen eines Abends aus Jux auf der Hinterbühne der Met wetteiferten, wem die größere Stimme eigne.) Anstelle dessen lauschen wir Menschen. Dieses Tondokument offenbart sich in seinen stillen Momenten. Jahrzehnte später wird sich Birgit Nilssons Stimme beim erst kürzlich auf Ö1 gesendeten Premièren-Mitschnitt aus der Wiener Staatsoper vom Dezember 1967, wie Jürgen Kesting anmerkte, durch das Wagner-Orchester » hindurchbrennen «. Jene von Kirsten Flagstad schwebte über dem Orchester.

Faszinierend auch die Klarheit und die Durchsichtigkeit des Klanges, welche Beecham dem Orchestra of the Royal Opera House Covent Garden abzulocken vermag. Wilhelm Furtwängler wird diesen in seiner 1952 eingespielten Studioaufnahme nicht erreichen. Das Philharmonia Orchestra wird verwaschener klingen, behäbiger. Deutscher. Die Tempi werden langsamer sein. Der Aufnahme wird jene Stringenz, jenes Drängen fehlen, welche Beechams Lesart auszeichnen. Man wird hören, daß Ludwig Suthaus immer wieder an stimmliche Grenzen stößt, wo Melchiors Tenor mühelos klang. Auch Flagstads Stimme wird es in der 15 Jahre später entstandenen Aufnahme an jener Kompaktheit gebrechen, welche sie in ihren besten Jahren auszeichnete. Die tiefen Töne werden dünner klingen, die Höhen teilweise angestrengt. Mancher hohe Ton wird nur mehr en passant serviert werden (z.B. das › fis ‹ in Ist er nicht Tristans treuester Freund?), manche Spitzentöne werden gar von Elisabeth Schwarzkopf stammen.1 — All diesen Einwänden zum Trotz berichteten wir heute von einer Sensation, könnten wir Tristan und Isolde mit Sängern und einem Dirigenten in der Qualität der Furtwängler-Einspielung hören. 1937 war bei Flagstad selbst von kleinsten Einschränkungen vokaler Art nichts zu bemerken.

V.
Beecham steigert das Tempo im Vorspiel, sobald er die Anweisung Belebend passiert, die Tonart ins helle, heldische A-Dur wechselt. Durch die genaue Beachtung (nicht nur) der dynamischen Vorzeichen blüht die Musik auf, die Steigerungen fallen je nach Zeichen kleiner oder größer aus. (Wagner notierte, wie der Dirigent Peter Schneider einmal feststellte, kleinere, kürzere Steigerungen meist durch Zeichen, längere und größere durch die Notierungen crescendo und diminuendo.)

Im zweiten Aufzug vermittelt der Dirigent mit dem Orchestra of the Royal Opera House Covent Garden von Beginn an jene Unrast Isoldes, welche in der Entdeckung der verbotenen Liebe gipfelt. Dabei geschieht dieses Vorwärtsdrängen organisch, wirkt nie gehetzt oder künstlich. Steigert sich auch im Orchester zur Raserei in den Momenten des Wiedersehens. Doch ohne daß jedoch der Eindruck entsteht, Flagstad oder Melchior würden stimmlich aus der Reserve gelockt. Eine durch einen Strich2 verkürzte Beruhigungsphase führt ins große Liebesduett, ehe König Markes Auftritt und Anklage die Handlung fast zum Stillstand zu bringen scheint.

Im dritten Aufzug zieht Beecham alle Register kapellmeisterlichen Könnens: Melchiors Tristan bleibt im mezza voce seiner Hinfälligkeit ebenso textverständlich wie in den mächtig aufrauschenden Fieberträumen.3 Die Stimme des Dänen scheint keine Grenzen zu kennen. Die Phrasierung ist vorbildlich, das legato sowieso, der stimmliche Ausdruck im Wechsel zwischen Ermattung und traumhaften Wahn nicht zuletzt dank Beechams umsichtiger Leitung mitreißend.

VI.
Der König Marke des Sven Nilsson überzeugt mit ruhigem, steten Ton. Nicht vorwurfsvoll oder deprimiert klingt das, sondern traurig, enttäuscht; — im Beginn sogar mit einer Prise hintergründigen Zorns gewürzt. Auch Beecham läßt sich Zeit: König Markes Frage schwebt im Raum, ehe die Musik wieder Fahrt aufnimmt. Am 18. Juni 1937 mäanderte dieser König Marke übrigens stimmlich ein wenig. Hörte sich Nilsson nicht so zupackend, so kompakt, so verletzt an wie in der Vorstellung vier Tage später. Da gelang der große Bogen vom ersten bis zum letzten Ton.

Margarete Klose singt die Brangäne in der Aufführung vom 18. Juni im Bewußtsein ihrer Kunst. Die Stimme fließt ruhig, überzeugt vom ersten Takt an. Zu Beginn des Abends hinterläßt die Altistin gesanglich sogar einen besseren Eindruck als Flagstads Isolde. Klose wechselt mühelos durch die Register, ohne daß die Gesangslinie bricht. Hervorragend gesungen z.B. der Abstieg zum tiefen Sopran-› c ‹ bei Deutlich tönt’s daher zu Beginn des zweiten Aufzuges. Frei, ohne Nachdrücken strömt diese Stimme. Die Wortdeutlichkeit ist vorbildlich.

Die Stimme der Mezzosopranistin Karin Branzell, der Brangäne vom 22. Juni, hört sich in der Mittellage heller, sanfter an als jene ihrer Kollegin. Branzell singt sauber auf Linie (ausgezeichnet zu Beginn des zweiten Aufzuges). Das chiaroscuro ist nicht so ausgeprägt wie bei Klose, die Akzente weicher, der stimmliche Zugriff nicht so dramatisch. Branzells Stimme klingt zuzeiten in der mittleren Lage heller als die von Kirsten Flagstad.

Auch bei der Partie des Kurwenal gab es einen Wechsel vom 18. zum 22. Juni: Am 18. sang Herbert Janssen, am 22. Paul Schöffler. Janssen singt mit kurzem legato, wie zu jener Zeit durchaus üblich. In seiner Nachricht an Isolde schließt er sich den staccati im Orchester an, wiewohl Wagner für die Singstimme weiterhin legato notiert hatte — eine künstlerische Entscheidung, die man nicht teilen muß, welche allerdings nachvollziehbar ist. Paul Schöfflers Stimme klingt mir auf dieser Aufnahme ausgewogener als jene Janssens, dabei weniger kompakt; loser. Mitreißend in der Freude über Tristans Erwachen auf Kareol, ehe sein Leben in Isoldes Armen verlöschen wird. Das legato von Schöffler erscheint uns heute natürlicher als das kurze seines Kollegen.

VII.
Nicht nur Melchiors und Flagstads Stimmen fesseln, auch Beechams Dirigat reißt mit. Und wenn die gebürtige Norwegerin den vielleicht innigsten von ihr überlieferten Liebestod anstimmt, bewegt sie uns: — auf einer 85 Jahre alten, live mitgeschnittenen Tonaufnahme mit Stör- und Hintergrundgeräuschen. (Während uns aktuelle Aufführungen in Opernhäusern kalt lassen.)

  1. Richard Wagner: » Tristan und Isolde «. Dirigent: Wilhelm Furtwängler. Mit Ludwig Suthaus, Kirsten Flagstad, Blanche Thebom, Josef Greindl, Dietrich Fischer-Dieskau, Rudolf Schock, Edgar Evans und Rhoderick Davies; Chorus of the Royal Opera House, Covent Garden, Philharmonia Orchestra. EMI 7-24358-58732-6 (4 CD). Aufgenommen vom 10. bis 21. und am 23. Juni 1952 in der Kingsway Hall, London.
    Zwei Jahre nach Erscheinen der Aufnahme berichtete die London Daily Mail, daß der Producer Walter Legge die Spitzentöne von Elisabeth Schwarzkopf, seiner Frau, singen und einmontieren hatte lassen.
  2. Der Strich reicht von Tristans Dem Tage! dem Tage! dem tückischen Tage! bis zu Isoldes Doch es rächte sich der verscheuchte Tag.
  3. Auch im dritten Aufzug gibt es einen kleinen Strich von Isolde noch im Reich der Sonne bis zu Ach Isolde, süße Holde.

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