Wolfgang Amadeus Mozart:
»Le nozze di Figaro« (Stream)
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
Der »Ponnelle-Figaro« ist zurück: Das ist eine erfreuliche Nachricht für alle, die auf der Bühne sehen wollen, was das Stück verhandelt. Wenn vielleicht auch nur für kurze Zeit. — Das wäre zu bedauern, denn wie Konrad Paul Liessmann feststellte: »Es ist ein Zeichen von Unbildung zu glauben, daß die Gegenwart der Vergangenheit in allen Belangen überlegen ist.«
Jetzt allerdings: Ponnelles Le nozze di Figaro, der doch unzweifelhaft jener von da Ponte und Mozart bleibt. Grischa Asagaroff, einst Jean-Pierre Ponnelles Assistent bei den Produktionen in Salzburg und Wien, ward eingeladen, die szenische Neueinstudierung zu leiten. Bühnenbild, Kostüme und die Basis der Spielleitung stammen vom Altmeister. (Wenngleich vor allem die Kostüme der Damen mit den Jahren einige Änderungen durchliefen.)
Genial, wenn der (endlich einmal nicht auf homosexuell getrimmte) Musikmeister Basilio (mit sehr leichtem Tenor: Josh Lovell) und der Conte d’Almaviva Susanna zur selben Zeit die Arme küssen, bis diese unter ihnen wegtaucht und die beiden Herren einander gegenüberstehen. Genial, wenn Susanna während »Porgi amor« der Contessa d’Almaviva in den Alkoven zurücktritt, ihr die Bühne überläßt. Solche Details gibt es zuhauf in dieser Produktion. Ich entsann mich ihrer wieder — und erfreute mich daran.
III.
Musikdirektor Philippe Jordan und das Staatsopernorchester eröffneten den Abend mit dem langsamsten Presto, das wohl jemals für diese Sinfonia gewählt worden ist. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wäre es Jordan gelungen, dafür im weiteren Verlauf des Abends zwingende musikalische Gründe glaubhaft zu machen. Doch dem das Bühnengeschehen eröffnende Allegro eignete dasselbe Tempo. Der Boden für manch folgende, musikalische Unebenheit ward damit bereitet.
Jordan schien den Sängern keine große Hilfe, oftmals mehr mit dem Spielen des Hammerklaviers beschäftigt: Das Duett »Via resti servita, madama billante« zwischen Marcellina und Susanna hätte ebenso von stringenteren dynamischen Vorgaben profitiert wie etwa Cherubinos »Non so più«. Susannas »l’età!« sollte ebenso überraschend wie eindrucksvoll vom Orchester akzentuiert werden. (Was ist das doch für eine köstliche Szene, diesmal — endlich wieder — nicht mitten auf der Bühne gespielt, sondern im Bereich einer Tür!)
Interessant auch, daß in Ponnelles Produktion auf des Conte d’Almaviva »Hai già vinta la causa!« (Szene IV) das Duett zwischen Barbarina (gefällig: Johanna Wallroth) und Cherubino (Szene VII) folgt. Danach geht es weiter mit der Contessa »Dove sono« (Szene VIII), ehe das Sextett »Riconosci in questo amplesso« Figaros Herkunft enthüllt und das nachfolgende Rezitativ (Szenen V und VI) die Umstellung beendet.
IV.
Elisabeth Schwarzkopf meinte einmal, Cherubinos würden nicht deshalb so gut bezahlt, weil die Partie so groß, sondern weil sie schwer zu singen sei. Virginie Verrez’ Tun erinnerte mich daran… »Non so più« lebt von der aufgekratzten Stimmung des Pagen, dem steten Vorwärtsdrängen, dem andauernden Wechsel vom piano ins forte und zurück. Da blieben Jordan und Verrez einiges an musikalischer Gestaltung schuldig, nahm man schon vor dem retardierenden Teil das Tempo zurück. Und immer wieder Verrez’ Blick in die Mitte, zum Souffleur, als gäbe auf den seitlich montierten Bildschirmen keine Hilfen für die Sänger zu erspähen. Verrez gefiel mehr durch ihr Spiel denn ihre gesangliche Leistung, strauchelte in »Voi che sapete«, die Höhen klangen durchwegs schwach. In Wien sollte ein Cherubino anders klingen.
V.
Louise Alder und Philippe Sly debutierten mit dieser Vorstellung als Susanna und Figaro im Haus am Ring. »Kleine Stimmen« notierte ich schon knapp nach Beginn. Wobei Alder den besseren Eindruck hinterließ, manch schöne Phrase sang. Alles in allem eine gute Leistung bot. Ihre Stimme klang kompakter als jene ihrer Kollegen. Doch die Susanna ist die geheime Hauptpartie, und es wäre an der Zeit, daß man sie auch wieder als solche besetzte.
Bei Alder waren gegen Ende des Abends Ermüdungserscheinungen nicht zu überhören. Ein Grund hierfür mag darin legen, daß auch diese Susanna die untere Stimmfamilie viel zu wenig als gesangliches Fundament zu verstehen scheint, darauf es sich trefflich musikalisch agieren läßt. So mancher Ton verklang fast unhörbar. Andere, wie das tiefe ›f‹ in »Deh vieni non tardar« änderten unvermittelt ihre Stimmfarbe. Und welchen Zwecken eigneten eigentlich die Generalpausen gegen den Schluß der Arie?
VI.
Der Figaro des Philippe Sly enttäuschte mich nicht nur seiner nicht funktionierenden Höhe wegen. Ein mißlingendes hohes ›f‹ (eines Basses »money notes«) im »Se vuol ballare« zu überspielen: fein. Aber alle höheren Noten an einem Abend? Wo, bitte, blieb die Verve in »Non più andrai farfallone amoroso«? Dazu gesellten sich gesangliche Unzulänglichkeiten sonder Zahl (wie die uneben gesungenen Triolen in »Aprite un po’ quegl’occhi«). Legato, diese eine der zwei wichtigsten Sängertugenden (nicht nur bei Mozart), galt (nicht nur bei Sly) an diesem Abend wieder einmal als Mangelware.
VII.
Andrè Schuen gab einen dauerzornigen Conte d’Almaviva. Das ermüdet, weil es auch in eine stimmliche Eindimensionalität mündet. Dazu kommt, das der Genius Mozart jede gesangliche Schwäche erbarmungslos offenlegt. »Hai già vinta la causa!« begann vielversprechend, verlor sich dann aber zunehmend im non-legato. (Wie so vieles an diesem Abend.) Und ob man Triller mit Kopfbewegungen singen sollte?
VIII.
Da war die Contessa d’Almaviva der Federica Lombardi aus anderem Holz geschnitzt. Wiewohl auch sie am Einsatz der unteren Stimmfamilie sparte, klang sie mir eine Klasse besser als alle ihre Mitstreiter. Dies bereits in »Porgi amor«, der wohl am traurigsten klingenden Arie, die jemals in Es-Dur komponiert wurde. »Dove sono« litt vornehmlich am von Philippe Jordan gewählten Tempo: mehr Adagio denn Andantino. Dann mangelt es allerdings manchen Phrasen an Stringenz, ohne daß der Sänger etwas dafür könnte. Es machte Spaß, Frau Lombardi zuzuhören. Doch auch hier — und immer wieder zu bemerken: der oftmalige Blick zum Souffleur. (Vielleicht funktionieren die Monitore doch nicht?)
IX.
Festzuhalten bleibt, daß alle Stimmen »leicht« und »gefällig« klangen; — also eines der wichtigsten Ingredienzien für eine lange Karriere, den »Kern«, missen ließen. Es ist dies das Ergebnis Jahrzehnte währender, falscher Gesangsausbildung, die zum frühen »Tod« so vieler Stimmen führt. Wer mit einem »weltweit ausstrahlenden Wiener Mozart-Ensemble« werben will, täte gut daran, sich vorher der Stimmen und der technischen Meisterschaft jener zu erinnern, die nach dem Krieg, als Reisen nicht möglich war, ein solches Ensemble bildeten. Derartige Vergleiche verböten sich dann von selbst.
X.
Dennoch: Diese Aufführung war ein vergnüglicher Abend, auch musikalisch. Szenisch sowieso.
Anmerkung: In der früheren Fassung stand zu lesen, daß Philippe Sly in der Arie »Se vuol ballare« die hohen ›es‹ mißlungen sein. Ein aufmerksamer Leser merkte an, daß das jweils zweite »si« in »le suonerò, si« kein ›es‹ ist, sondern auf dem hohen ›f‹ notiert ist. Ich bedanke mich für den Hinweis und entschuldige mich für den Fehler.