Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Welche Ordnung der Dinge? — Zum Repertoire der Opernbühnen des 17. und 18. Jahrhunderts (II)

Von Sergio Morabito

(Vorbemerkung des Herausgebers: Nachstehend der Abdruck von Sergio Morabitos Antwort auf meine Replik zu seinem Vortrag, gehalten im Rahmen des Symposiums »›Das Repertoiretheater ist tot!‹ — Es lebe das Repertoiretheater?« am 4. September 2020 in der Wiener Staatsoper.)

 

Sehr geehrter Herr Prochazka,

sehr gern habe ich Ihnen das Manuskript übergeben — und bin beeindruckt von der schieren Länge Ihrer Reaktion! Allerdings fühle ich mich auch weitgehend missverstanden. Zumal es in einem solch komplexen Zusammenhang, wie dem von mir skizzierten, meines Erachtens zunächst gar nicht um richtig oder falsch gehen dürfte, sondern einfach nur darum, ob wir bereit sind, uns in bestimmten Denkgewohnheiten produktiv verunsichern lassen.

Meine These fokussiert bewusst auf die eigentliche Theater-Arbeit — und ohne es vermutlich selbst gewollt und bemerkt zu haben, bestätigen Sie den Verdacht, meinen Gedanken gar nicht wahrgenommen, geschweige denn zu ihm Stellung genommen zu haben, indem Sie beschreiben, was für Sie die Essenz eines Opernerlebnisses ausmacht.

»Wenn Violetta im zweiten Akt Alfredo mit den Worten ›Tu m’ami, tu m’ami, Alfredo … Amami, Alfredo, amami quant’io t’amo‹ ihre Liebe bekennt, Verdi diesen Moment mit einer der ergreifendsten Melodien ausstattete, die je ein Mensch zu Papier gebracht hat, entscheiden nicht die Szene oder die Beleuchtung oder die Kostüme über Erfolg oder Misserfolg. Sondern die Kunst des Dirigenten, diese Phrasen im Orchester zum Erblühen zu bringen. Und die Kunst der Sänger, uns an dieser Wonne, diesem Schmerz und dieser Verzweiflung, kurz, an der Liebe, emotional teilhaftig werden zu lassen. Weil es uns ergreift. Weil wir es in diesem Moment als ›wahr‹ empfinden. Wenn an dieser Stelle im Parkett die Taschentücher gezückt werden, ist es gut.«

Hiermit abstrahieren Sie von allen szenischen Parametern und beschreiben etwas, was auch in jeder konzertanten Aufführung möglich ist — also etwas, was mein Thema und meine Ausführungen in keinster Weise berührt, sondern im Gegenteil eine bewusste, dabei recht unduldsam daherkommende Abwehr und Negation jedes substantiellen Nachdenkens über Musiktheater darstellt. Mein Grundgedanke ist gar nicht erfasst, wenn Sie nicht bereit sind, die gut dokumentierte Beobachtung zuzulassen, dass die Opernkomposition im 17. und 18. Jahrhundert zu den Theater- und Ausstattungskünsten zählte.

Ich wage daher zu behaupten, dass Ihre Ausführungen ganz viel über Sie und Ihre Opernkonsum-Gewohnheiten erzählen mögen, aber demjenigen wenig weiterhelfen, der über Musiktheater nachdenken möchte. Es ist schwer möglich, mit jemandem zu diskutieren, den das Thema, über das man sich geäußert hat, gar nicht wirklich interessiert, sondern der sich letztlich lediglich verbittet, beim Gebrauch seines Taschentuchs gestört zu werden.

Daher weiß ich auch gar nicht, ob ich auf Ihre Einwände detailliert eingehen muss, da für Sie ja ohnehin festzustehen scheint, dass alles »ganz einfach« sei: weil es nämlich auf die Szene letztlich ohnehin nicht ankomme — und früher sowieso alles besser gewesen sei, wie als Basso ostinato Ihrer Äußerungen herauszuhören ist. Aber protestieren muss ich doch, wenn Sie mir unterstellen, meine Überlegungen liefen darauf heraus, Autorenrechte für die Regie zu reklamieren. Falls es Sie wirklich interessiert, sich in die angedeuteten Zusammenhänge ergebnisoffen zu vertiefen, darf ich Sie auf meinen Essay »Jenseits von Autorschaft und Interpretation« aufmerksam machen. Er ist in meinem im Januar im Teesalon präsentierten Buch »Opernarbeit«1 enthalten. Dort ist auch immer wieder der überragende Stellenwert ein Thema, den Jossi Wieler und ich in unserer Regiearbeit dem kreativen Dialog mit den Sängerinnen und Sängern einräumen.

Und ich kann es mir auch nicht verkneifen, daran zu erinnern, dass Opernhäuser genau deswegen so hoch subventioniert werden, um sie nicht der von Ihnen populistisch geschwungenen kommerziellen Drohkeule auszuliefern.

Gern dürfen Sie diese Antwort auf Ihr Anschreiben auf Ihrer Website — aber wenn, bitte ungekürzt — veröffentlichen. Mein Vortrag selbst wird in den kommenden Tagen — mit anderen Vorträgen und Materialien des Symposiums — auf der Website der Staatsoper erscheinen, insofern können Sie ja dann einfach den Link veröffentlichen, und jeder Interessierte kann sich dann selber einen Eindruck verschaffen.

Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen.
Sergio Morabito

  1. Sergio Morabito: »Opernarbeit. Texte aus 25 Jahren.« Herausgegeben von J.B. Metzler, 2019, ISBN 978-3476049087, 416 Seiten.

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