Gottfried von Einem:
»Der Besuch der alten Dame«
Theater an der Wien
Von Thomas Prochazka
II.
Der Österreicher begeht gerne Jubiläen. (Der Franzose weniger.) Zum 100. Geburtstag Gottfried von Einems kehrte uns Der Besuch der alten Dame wieder. Diesfalls im Theater an der Wien. Keith Warner blieb im ersten und zweiten Akt nahe an Friedrich Dürrenmatts Buch. David Fieldings Bühnenbilder visualisierten den Konradsweilerwald ebenso wie das Wirtshaus »Zum Goldenen Apostel« und Alfred Ills Laden getreu nach dem im Jänner 1956 am Züricher Schauspielhaus uraufgeführten Theaterstück. Ausgezeichnet auch die Idee, zu Beginn alle Güllener in grau zu kleiden; nur Claire Zachanassians und ihres Gefolges Kostüme zeigen Farbe.
III.
Das wird sich im Laufe des Abends ändern: Je mehr die Städter Zachanassian verfallen, umso bunter werden Szene und Kostüme. Daß hier Pleasantville Pate stand, tut der Sache keinen Abbruch.
Effektvoll, mit welch sparsamem Einsatz szenischer Mittel Fielding und Warner die Handlung vorwärts treiben: Eine alte Plakatwand, zweidimensionale Wirtshaustische, ein ebensolcher Kaufmannsladen — in Schwarz-weiß-Optik mit farbig angestrahlten Bildern — genügen ihnen in Verbindung mit Dürrenmatts Text zur Sezierung der gesellschaftlichen Zusammenhänge. Längst schon kaufen die Güllener bei Ill auf Pump. Lassen anschreiben im Vorgriff auf die von Claire Zachanassian versprochene Milliarde bei jenem, der zu Tode kommen soll.
Auch die Kirche bekommt ihr Fett ab: Als Ill den Pfarrer aufsucht um Beistand, sitzt da ein Jüngling, verschreckt, die Hände zwischen den Beinen…
Im dritten Akt allerdings fallen Fielding und Warner aus der Zeit, treiben’s zu bunt: Aus dem Kaufmannsladen wird ein Supermarkt mit Scanner-Kassen. Bei Alfred Ill verkauft man nun auch Kleidung, Schuhe und Tennisschläger. (Weil seine Tochter Ottilie Tennisstunden nimmt?) Der Kundschaften gibt es zuviele, als daß man sich auf das Gespräch zwischen dem Bürgermeister und Alfred Ill zu konzentrieren vermochte. Der im Text erwähnte Persianer von Mathilde Ill entpuppt sich als Nerzmantel…
Das Schlußbild schließlich spielt in einer unpersönlichen, weiß verfließten Bahnhofshalle mit stylischer Bar und Disco-Beleuchtung. Die Dorfgemeinschaft tritt samt und sonders in billige Glitzerfummel und Möchtegerne-Sternchen-Klamotten gekleidet auf. Ills Tod erfolgt in einer der Toiletten, darin zuvor die in ein aufreizendes Kostüm gekleidete Reinemachfrau und der Arzt Dr. Nüßlin für die bezahlte Befriedigung seiner Lust zueinander fanden. Man sieht messerschwingende Arme, obwohl — von der Galerie aus gut zu beobachten — niemand außer Ill die Toilette betrat. Schade, daß Warner da nicht auf jene Lösung in der Verfilmung mit Christiane Hörbiger in der Hauptrolle zurückgriff: In dieser bilden die Städter ein Knäuel, darin Ill fällt.
IV.
Der Besuch der alten Dame läßt sich nicht ohne eine geschlossene Ensemble-Leistung aufführen. Und die stand zur Verfügung im Theater an der Wien. Faszinierend, mit welcher Liebe zum schauspielerischen Detail Warner die Güllener zeichnete, da und dort die überhebliche Unbeholfenheit der Städter, Stellvertreter unserer Gesellschaft, zutage trat… Antonio Gonzales (Koby) und Alexander Linner (Loby) in hellblauen Kleidchen und weinroten Doc Martens-Stiefeln spielten die kastrierten und geblendeten Meineidschwörer im damaligen Prozeß gegen Alfred Ill mit bewundernswerter Hingabe. Hervorragend Michael Hinterhauser als Der schwarze Panther. Cornelia Horak fiel als Ills Frau Mathilde im »Goldenen Apostel« gekonnt in Ohnmacht, Markus Butter erinnerte als rauchender Pfarrer an die Ära Kardinal Groers. Florian Köfler bellte sich als Hahncke, Polizist, durch die Szene, während Martin Achrainer als Dr. Nüßlin und — vor allem — Adrian Eröd als Lehrer auch stimmlich zu glänzen verstanden. Raymond Very war nicht nur ein wortdeutlicher Bürgermeister, sondern gab in seiner Schmierigkeit beredtes Zeugnis ab von der heute agierenden Politiker-Zunft.
Katarina Karnéus als Claire Zachanassian: Was der Schwedin an stimmlicher Gestaltung fehlte, suchte sie durch überlegtes Spiel wettzumachen. Und Russell Braun? War Alfred Ill bis zur letzten Sekunde seines Bühnenlebens.
V.
Michael Boder leitete das ORF Radio-Symphonieorchester Wien und ließ es weder an den theatralischen Effekten noch der Begleitung der Singstimmen fehlen. Boder unterstützte nicht knallig, sondern mit Bedacht, entlockte dem Orchester immer wieder erstaunliche Klänge.
Eine interessante Erfahrung: Daß Der Besuch der alten Dame — erstmals! — den Arnold Schoenberg Chor an seine Grenzen brachte. Da gab es einige unsaubere Einsätze zu verzeichnen.
VI.
Und das Werk? Die Musik Gottfried von Einems untermalt ein ausgezeichnetes Theaterstück, welches ebenso gekonnt in ein Libretto gegossen wurde. Wenn Der Besuch der alten Dame die Zeiten überdauern wird, dann der Kunst Friedrich Dürrenmatts wegen.
VII.
Das Städtchen Güllen jedoch… — ist überall in einer Zeit, wo Recht über Gerechtigkeit siegt und der egoistische Vorteil des Einzelnen über das Wohl des größeren Ganzen triumphiert, als müßt’s so sein. (Man gehe vor die Tür.)
Der große Spiegel im Theater an der Wien: Er kam ganz ohne Glas aus.