Giuseppe Verdi:
»La traviata« (Stream)
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
Simon Stone siedelt seine Inszenierung im Hier und Jetzt an — und beruft sich dabei auf Verdi, der für Venedig 1853 ebenso ein zeitgenössisches Bühnenbild und ebensolche Kostüme wünschte. Bei Simon Stone ist Violetta Valéry eine Influencerin und »käufliches Wunschobjekt der Pariser Gesellschaft« mit einem eigene Parfum-Label und 147 Millionen »Followern« in den Sozialen Netzwerken. Quasi eine moderne Version der Nana. Doch der Alphonsine Plessis? Niemals.
Bis vorgestern war Violetta auf der Website der Staatsoper übrigens ein »It-Girl«, welches an einer Krebserkrankung zugrundegeht. Jetzt nicht mehr. Naja, schon — irgendwie. Aber nicht mehr so offensichtlich. (Man muß sich schließlich in seiner Interpretation gewisse Freiheiten bewahren.)
Was dieser Spielvogt übersieht: Der kollektive Individualismus unserer Tage macht eine Auseinandersetzung und, mehr noch, deren Ausgang wie in jener zentralen des zweiten Aktes zwischen Giorgio Germont und Violetta Valéry vollkommen unglaubwürdig. Will Stone uns wirklich weismachen, eine offenbar millionenschwere Influencerin — eine eigene Parfum-Linie ist schließlich nicht um ein Taschengeld zu haben — des 21. Jahrhunderts lasse sich vom Vater ihres Lebensgefährten den Umgang verbieten?!? (Und das am Vorabend des Weltfrauentages?)
Sollen wir Stone ernsthaft glauben, eine Influencerin, die in ihrem großen Wagen eine Gesellschaft verläßt, wandert dann allein die Tuillerien entlang, bleibt an einer Imbißbude namens »Paristanbul« stehen und geht von dort zu Fuß nach Haus, ohne Entourage? Wie hoch mag die Wahrscheinlichkeit sein, daß eine Schwester im Geiste Kim Kardashians und Paris Hiltons mit Personal den Steyr Diesel-Traktor selbst fährt, den der Spielvogt Robert Cousins (Bühne) in die Dekoration hat stellen lassen? Sollen wir Alice Babidge (Kostüme) nickend zustimmen, wenn sie uns Giorgio Germont mit nichtssagendem, braunem Jackett und alter Lederumhängetasche vorstellt, während Stone im Programmheft vom »alten Geld«, dem Einfluß, der Macht, spricht? Kleidet sich »altes Geld«, zumal im chicen Paris, nicht anders? Unauffällig, dabei elegant und gediegen?
Woran stirbt Stones Violetta, wenn nicht an der Schwindsucht? An Krebs, stand noch bis vor kurzem zu lesen. Weiß Stone, wie Krebskranke im finalen Stadium aussehen? Wie deren Haut wächsern wird, die Haare stumpf (so ihnen noch welche blieben), die Augen eingefallen, den Auswurf auf den Lippen? Stattdessen singt uns eine augenscheinlich in der Blüte ihres Lebens stehende Violetta vom Sterben. Wo bleibt da auf einmal Stones so viel gepriesener Realismus? Oder darf man diesen Schock dem jungen Opernpublikum, das man gewinnen will, nicht zumuten?
Und: Wie wird das mit den Videos von Zakk Hein sein, wenn nach der Première nicht mehr Pretty Yende und Juan Diego Flórez die Hauptpartien singen? Oder, auch das soll hin und wieder vorkommen, Sänger krank werden und kurzfristig ersetzt werden müssen? Wird man dann für das Repertoire jedes Mal neu drehen, um viel Geld?
III.
Wie’s heute üblich, wollen sich auch Text und Handlung nicht in eins fügen. »Mi cari, sedete!« singt Violetta, doch gibt es keine Tafel, an der ihre Gäste Platz nehmen könnten. — »Partite?« fragt sie Alfredo wenig später (»Sie gehen?«). »Parto (ich gehe)«, antwortet er — und bringt sie zum Wagen. In dieselbe Kategorie fällt, daß die angezeigten (deutschen) Untertitel anderes aussagen als gesungen wird.
Während auf den LED-Bildschirmen von Euros zu lesen ist, die Violetta der Bank schuldet, singt man von Louis d’Or, die man abheben bzw., später, beim Spiel, setzen will. Violetta fährt mit dem Wagen nach Paris zurück, während wir im Orchester das komponierte Pferdegetrampel hören. Und obwohl Violetta mit ihrem Smartphone verwachsen ist, schreibt sie an Flora einen Brief?!? So geht es weiter mit dem Unsinn, am laufenden Band; den ganzen Abend lang.
Früher nannte man solches stümperhaft, heute heißt man’s »modern« und »zeitgemäß« und will damit »neue Publikumsschichten« gewinnen…
IV.
All das wäre verzeihlich, entschädigte ein musikalisches Feuerwerk für das szenische Nichts und die nicht existierende Personenführung. Ausgenommen selbstverständlich, man nimmt eine sich andauernd bewegende Drehbühne mit übergroßen LED-Bildschirmen, darauf Parfum-Werbung und eingeblendete Sprachnachrichten für ein Bühnenbild.
Denn die Oper — horribile dictu! — lebt immer noch von der Musik, den Chören, den Sängern. Giacomo Sagripanti mag die Partitur kennen, durchgearbeitet hat er sie nicht. Und wohl auch keine Aufnahmen großer Maestri analysiert. Der Haus-Debutant vergab nicht nur im ersten Akt jede Möglichkeit einer musikalischen Differenzierung, einer sinnstiftenden Dynamik. Langsam, zu langsam — und eintönig! — schleppte sich der Abend dahin: abgestandener Sekt anstatt prickelnden Champagners. Mochte da das Staatsopernorchester auch sauber und mit jener Zurücknahme spielen, welche von ihm verlangt wurde. Blutleer blieb dieser Abend. Verläßlich stockte der Fluß der Musik, wo piano in der Partitur steht, wurde rascher, wo Verdi forte notierte. Eine Unart.
Selbst das Fest bei Flora vermochte musikalisch nicht zu zünden, machte der Staatsopernchor noch so sehr gute Miene zum auf ganzer Linie vergebenen Spiel. (Szenisch war dieser Versuch eines »Life-Ball« ohnehin von größter Peinlichkeit.)
V.
Der Giorgio Germont des Igor Golovatenko bot die beste Stimme des Abends. Agierte als einziger vom Stimmkaliber her in einer Liga, die gesanglichen Ausdruck erst möglich macht. Doch Golovatenko sang undeutlich und schwer verständlich. Hatte einige Mühe mit dem legato und der Stimmführung in den hohen und höchsten Regionen. Da war mir seine Leistung als Marquis de Posa besser in Erinnerung, viel besser. Allerdings will ich Golovatenko zugutehalten, daß der Dirigent ihm an den wenigsten Stellen jenes Tempo gestattete, das Verdi notiert hatte. Daß dieser Giorgio Germont kaum aussingen durfte: Andernfalls wären seine Partner wohl rettungslos in den Klangwogen untergegangen…
VI.
Juan Diego Flórez sang — die COVID-19-Pandemie macht es möglich — erstmals den Alfredo in Wien. Flórez bestritt den ersten Akt mit zwar schmaler, aber gut geführter Stimme; doch ohne jene Glanzlichter, der ein Alfredo zweifelsohne bedarf. Im zweiten Akt schwächelte er hörbar: Das legato funktionierte nur in der Mittellage, in der Höhe klang die Stimme eng, mitunter flach; bot wenig Volumen. Dieser Eindruck blieb mir auch im dritten Akt, obwohl in »Parigi, o cara« ein paar schöne Phrasen gelangen.
VII.
Pretty Yende, die neue Wiener Violetta Valéry, wird sicher von all jenen gefeiert werden, welchen klare Intonation und gesangstechnische Fertigkeiten nichts bedeuten. Alle anderen bemerkten wohl die unzähligen, nicht in der Partitur notierten portamenti, um Phrasen in der hohen Lage zu beginnen; die häufigen Intonationstrübungen; die Wortundeutlichkeit (kaum chiaroscuro); das mangelnde Stimmvolumen in der unteren Lage (vor allem in absteigenden Phrasen). »Sempre libera« beispielsweise zog vorüber, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen; — sieht man von unausgewogenen und unsauber gesungenen Koloraturen ab…
VIII.
Dieser Abend: eine Enttäuschung.