»Don Carlos«, 4. Akt, in der fünfaktigen französischen Urfassung von 1867 © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Don Carlos«, 4. Akt, in der fünfaktigen französischen Urfassung von 1867

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Giuseppe Verdi: »Don Carlos«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Fast 16 Jahre nach der Uraufführung spielt die Wiener Staatsoper wieder die Urfassung von Don Carlos. Die Urfassung; — jene also, mit der Verdi 1866 zu den Proben nach Paris reiste. Ein inszenatorisches Fest. Gesungen wird nur mittelmäßig. Das ist ebenso bedauerlich, wie es zu erwarten stand.

II.
Über Konwitschnys gelungene Arbeit ein andermal mehr. Hier soll genügen, daß seine Interpretation des Balletts — »Ebolis Traum« — auch heute noch erregten Widerspruch hervorruft. Willkommen, Ihr Neuen unter den Opernfreunden! 

»Ebolis Traum«: die Pantomime eines (spieß)bürgerlichen Daseins an der Seite Carlos’, die Schwiegereltern Élisabeth und Philippe kommen zum Abendessen. Der Braten verkohlt, doch »Posas Pizza«-Dienst rettet die Situation... Nun ja.

Viel interessanter scheint mir Konwitschnys große Idee der Unfreiheit und Zwänge. Zwänge, welche die Systeme selbst jenen aufzuerlegen scheinen, die eigentlich darüber herrschen: Während der Fontainebleau-Akt auf freier Bühne spielt, senken sich mit der Übersiedlung in den Escorial Wände auf die Bühne, begrenzen den Raum. Auch den Spielraum. Die Türen sind zu niedrig, als daß man erhobenen Hauptes hindurchschreiten könnte: Auch der Grand Inquisiteur (Philippe singt übrigens »mon Inquisiteur«, nicht »Grande Inquisitore«, wie in der italienischen Fassung) und der König müssen sich beugen; sind von diesen Zwängen nicht ausgenommen. Einzig die finale Rettung von Élisabeth und Don Carlos durch den Mönch (Charles V.) bringt Freiheit: Da öffnet sich eine schmale, hohe Tür.

III.
Doch in der Oper liegt das Primat bei der Musik. (Andernfalls handelte es sich um Schauspiel.) Und nein, Oper ist nicht »schöner Gesang in Kostümen«, wie Bogdan Roščić mehr als einmal pointiert feststellte — sondern das Spiel mit der Stimme. Das Spiel mit der Stimme, verstärkt durch den gesanglichen Aus- und Eindruck unterstützendes Agieren. Doch leider: Was diese Disziplin, das Herz jedes Opernabends, betrifft, kam die Aufführung nicht über Mittelmaß hinaus. 

»Don Carlos«: Igor Golovatenko (Rodrigue) bei seinem Debut an der Wiener Staatsoper © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Don Carlos«: Igor Golovatenko (Rodrigue) bei seinem Debut an der Wiener Staatsoper

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

IV.
Mit einer Ausnahme: Igor Golovatenko als Rodrigue, Marquis de Posa. Golovatenko ließ bei seinem Haus-Debut eine sehr gut geführte Stimme hören; dunkel im Klang, mit der rechten Größe, wo erforderlich; und einheitlich. Keine abgesetzten Höhen, kein falsetto. Dieser Rodrigue, der vieles notiert, doch ohne seine Brille nicht zu entziffern vermag, weiß nicht nur um die gesanglichen Vorzüge, sondern auch darum, wie sie anzuwenden sind. Er singt an diesem Abend um eine Klasse besser als alle anderen. Mindestens.

V.
Mit Michele Pertusi hatte das Institut keinen basso profondo als Philippe II. engagiert. Das hörte man leider ebenso wie Pertusis stimmliche Überforderung mit der Partie. Dieser König: jeder Zoll kein Herrscher. Leider schwächelte auch Roberto Scandiuzzi als Le Grand Inquisiteur. Gewaltig oder gar einschüchternd dröhnte da nichts. Grundsätzliches, so schien es, wurde in der beiden Herren Auseinandersetzung nicht verhandelt. Zu flach klangen die Stimmen, zu uninteressant. Da fehlte es am Volumen in der Tiefe; und auch an der gesanglichen Gestaltung. »Elle ne m’aime pas !« — sollte das nicht der Gesang gewordene Schmerz eines Mannes sein, der erkennen muß, daß all seine Macht vergeblich ist, wenn es um die Liebe geht? Bei Pertusi: mehr Feststellung der Fakten denn Verzweiflung über diese Erkenntnis.

So war es der Baß des Dan Paul Dumitrescu, der als Mönch (Charles V.) stimmlich den nachhaltigsten Eindruck hinterließ, manch technische Unsauberkeit hin oder her. (Spielerisch wird er von Konwitschny auch mit komischen Einfällen bedacht. Das hilft beim Erklettern der Sympathieleiter.) Doch dieser Mönch berührt. Berührt mit seiner Empathie für die Königskinder, die zueinander nicht finden durften. Konwitschny zeichnet ihn als den einzigen, der weiß, worum es geht. Der sich aus dem »System« befreit hat.

»Don Carlos«, 4. Akt: Roberto Scandiuzzi (Le Grand Inquisiteur) und Michele Pertusi (Philippe <abbr>II.</abbr>) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Don Carlos«, 4. Akt: Roberto Scandiuzzi (Le Grand Inquisiteur) und Michele Pertusi (Philippe II.)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

VI.
Vor einem Jahr stand Ève-Maud Hubeaux in der Modena-Fassung (1886) des Don Carlo an der Seite Anita Rachvelishvilis als Tebaldo auf der Bühne der Bastille Opéra. Ein Jahr später übernimmt sie in Wien nun bei ihrem Haus-Debut La Princesse Eboli.

Dieser Sprung ist zu groß. Da hilft auch kein animierendes Spiel, keine genaue Befolgung der Konwitschnyschen Anweisungen. Das »Schleierlied« (»Au palais des fées«), die Visitenkarte jeder Eboli, hört sich seltsam blaß an, die Lautstärkewechsel verpuffen. Leggero klingt da wenig im Duett mit dem rollendeckenden, sonst jedoch unauffälligen Thibault der Virginie Verrez. (Wohlwollende Beobachter werden solches eine »schlank geführte Stimme« nennen.)

Selbst »O don fatal« gebricht es an musikalischer Durchdringung der nun von allen Zurückgewiesenen, die cabaletta zündet nicht, weil es Hubeauxs Stimme an Durchschlagskraft, an Volumen mangelt. (Das vorangehende Duett ÉlisabethEboli war übrigens eine der ersten Nummern, die noch vor der Uraufführung in Paris gestrichen wurden.) Gewiß, Hubeaux läßt so manche schöne Phrase (vor allem in der Mittellage) hören, setzt (viel zu sparsam) auch die untere Stimmfamilie ein. Doch die Verbindung mit der oberen funktioniert selten zufriedenstellend, die Spitzentöne klingen — wie übrigens auch bei ihrer Kollegin Malin Byström als Élisabeth de Valois — abgesetzt, wollen sich an diesem Abend kaum jemals in die Gesangslinie fügen.

VII.
Mit Malin Byström in der Partie der Élisabeth de Valois stellte sich eine weitere Sängerin dem Wiener Opernpublikum vor. Auch hier sind es die gesanglichen Mängel, welche einen optisch und darstellerisch guten Eindruck nachhaltig beschädigen. Byström fehlt es für eine Élisabeth vom ersten Ton an sowohl in der unteren Lage als auch bei der Exekution der Spitzentöne unüberhörbar an Kraft, an Volumen. Letztere klingen abgesetzt und scharf, erstere werden »nachgedrückt«. (Man hört es nicht nur, man sieht es an Byströms Haltung.) Da müht sich jemand über weite Strecken jenseits der Grenze stimmlicher Überforderung.

»Don Carlos«: Malin Byström (Élisabeth de Valois) und Jonas Kaufmann (Don Carlos) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Don Carlos«: Malin Byström (Élisabeth de Valois) und Jonas Kaufmann (Don Carlos)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

VIII.
Und der Don Carlos von Jonas Kaufmann? Der fügt sich ein in das gesangliche Niveau. Mit gaumiger, verschatteter Stimme, mit nasaler Tongebung beginnt Kaufmann den Abend. Absolviert »Je l’ai vue et dans son sourire«, ohne daß sich eine Hand im Rund hebt. Erst im dritten Akt, in der Szene mit Eboli und Rodrigue, kommt er stimmlich besser in Fahrt. Doch bis zum Schluß bleiben die Höhen, so im piano zu absolvieren, gefährlich zu umschiffende Klippen, wird der Mund breit, die Stimme »luftig«. Nimmt Kaufmann Zuflucht zur reinen Kopfstimme, begibt sich damit der Möglichkeiten zur dynamischen Gestaltung dieser Phrasen. Die forte zu absolvierenden Passagen gelingen besser. Da spricht die Stimme an, da funktioniert das legato in der Mittellage in einer Weise, die seinem Ruf gerecht wird. Die Szenen mit Rodrigue im zweiten und im vierten Akt beispielsweise. Doch auch da hinterläßt Golovatenko den besseren stimmlichen Eindruck. Dieser Abend: eine Enttäuschung.

IX.
Bertrand de Billy, der bereits die Uraufführung 2004 dirigierte und für das Programmheft einen überaus lesenswerten Artikel zu den einzelnen Fassungen des Don Carlos/Don Carlo verfaßte, ließ sich mitunter viel Zeit. Einerseits. Trieb andererseits im Ballettfinale das Orchester vorwärts. Noch scheint man die optimalen Tempi nicht immer gefunden zu haben, schleppte auch der Chor der Wiener Staatsoper ein-, zweimal. Doch manche Passagen, wie etwa jene des Autodafés, das Konwitschny aus der Geschichte löst und in unsere Zeit versetzt, gelingen Chor und Orchester in beeindruckender Weise.

X.
Der Abend bezieht seine Stärke aus der Urfassung und Peter Konwitschnys Regie. Sängerisch wiegen (mit Ausnahme des Rodrigue von Igor Golovatenko) leider die Mängel zu schwer.

112 ms