»Otello«, 1. Akt: Aleksandrs Antonenko als Otello beim »Esultate!« © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Otello«, 1. Akt: Aleksandrs Antonenko als Otello beim »Esultate!«

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Giuseppe Verdi: »Otello«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Ohne Schauspieler kann man nicht Theater spielen, soll Max Reinhardt einmal gesagt haben. Und ohne Sänger kann man keine Oper machen.
(So waren, alles in allem, die Verhältnisse.)

II.
Interessant, daß Arrigo Boito und Giuseppe Verdi Iago — anders als Shakespeare — nicht als Fi­gur, als Menschen, sondern als das Prinzip des Bösen sahen. Sie schlossen sich damit der Auf­fas­sung von Samuel Taylor Coleridge (1772 –1824) an, der in Iago einen Fall desinteressierter, grundloser Bosheit erblickte; einen Mann, der sagte: »Böses, sei Du mein Nutzen« (»Evil, be thou my good.«) und danach handelt.1

»Fragen Sie Papa«, schrieb Verdi an die Gräfin Maffei, Shakespeare meinend. »Es ist gut mög­lich, daß er, Papa, einer Art Falstaff begegnet ist; aber es ist höchst unwahrscheinlich, daß er jemals einen Schurken so böse wie Iago traf [...]. Trotzdem sind sie so wahr…« Die Absenz jeden Motives macht Iago zum Prinzip des Bösen und zum Motor der Ereignisse (wie Hofmannsthal die Amme in Die Frau ohne Schatten). Dies der große Unterschied zwischen Oper und Theater, zwischen Boito/Verdi und Shakespeare: Die Musik ist uns Anhaltspunkt genug. Es bedarf keiner weiteren Erklärungen, keiner Rechtfertigungen.

Ähnliches gilt auch für die Partie der Desdemona: »Keine Frau«, äußerte sich Verdi später ein­mal, »sondern ein Typ. Sie ist das Modell der Güte, der Resignation, der Selbstaufopferung. [...]«2 Und Boito fordert von der Sängerin im Produktionsbuch zu Otello äußerste Zu­rück­hal­tung in ihren Gesten. 

III.
Was bleibt? Otello. Der Mohr von Venedig. Der Krieger, der Held, der Liebende. »Wir müssen den Helden in all seiner Größe erkennen, um zu verstehen, wie sehr er der Liebe wert und wie groß seine Fähigkeit für leidenschaftliche Hingabe ist«, schrieb Boito. Es ist die Eifersucht, von Iago in Otellos Herz gepflanzt, welche ihn von dieser Höhe herabstürzen läßt. 

Die Angst vor dem Feuilleton und die vermeintlich politische Korrektheit bewegen die Ver­antwortlichen heutzutage zum Verzicht auf die auch äußerlich sichtbare Darstellung des Moh­ren. Sie verwechseln Theaterschminke mit dem Respekt vor der Person: — wie dumm! Und sie verkleinern damit künstlich die Fallhöhe, das Drama Otellos; — das eigentliche Anliegen des Stücks. Denn Theater ist Spiel, ist Verwandlung; ist Illusion; ist (schreckliche Wahrheit, dies) Theater.

Begreift man Iago und Desdemona als Prinzipien, bleibt einzig Otello als Mensch. Doch scheitert die­ser nicht an der Gesellschaft, sondern an sich selbst. An seinem Minderwertigkeitskomplex, wel­cher sich als Eifersucht äußert. An seinem Unglauben. — Das ist es, was für uns Heutige aus dem Stoff zu gewinnen wäre.

»Otello«, 3. Akt: Iago (Vladislav Sulimsky) mit seinem Opfer Otello (Aleksandrs Antonenko) in der nur teilweise stimmungsvollen Ausstattung von Dick Bird © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Otello«, 3. Akt: Iago (Vladislav Sulimsky) mit seinem Opfer Otello (Aleksandrs Antonenko) in der nur teilweise stimmungsvollen Ausstattung von Dick Bird

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

IV.
Regisseur Adrian Noble und sein Ausstatter Dick Bird verlegten die Handlung vom Zypern des frühen 16. Jahrhunderts nach 1910: »um die Spannungen, die sich durch den Gegensatz zwischen der lokalen Bevölkerung und der fremden venezianischen Militärmacht ergeben, vor dem Hin­ter­grund des Kolonialismus zu beleuchten.« Das ist zwar nicht das Thema der Oper, erspart den Verantwortlichen allerdings im Vorfeld jede Menge Diskussionen. Und mit ein wenig Glück kann man sich — wieder einmal — auf die »Freiheit der Kunst« berufen.   

Soviel Kolonialismus gibt es dann aber doch nicht. Birds Kostüme — schwarze Anzüge mit Zy­lindern für die Herren des Chores, schwarze Kleider für die Damen — mögen einfallslos sein (zumal auf Zypern): sie stören nicht. Gleiches gilt für die Beliebigkeit der Uniformen und die Ma­tro­sen­kleid­chen der Kinder der Opernschule der Wiener Staatsoper für ihren Auftritt im zweiten Akt. Allerdings scheint es auf Zypern immer dunkel zu sein: Die gleißende Helle des sommerlichen Mittelmeeres verirrt sich kaum auf die Bühne. Stattdessen werden uns schwere Holzmöbel und Feldbetten für Cassio und Iago vorgestellt, und Heurigenbänke für das Gelage des ersten Aktes.

Allerdings weiß Jean Kalman des Kollegen Ausstattung geschmackvoll ins Licht zu setzen, sodaß man in Wien wieder behaupten kann, über eine Otello-Produktion zu verfügen. (Die vor­her­gehende kann nur ein Mißverständnis gewesen sein.)

V.
Man vermöchte also in Wien wieder Otello spielen. Auch wenn der weiße Mohr Desdemona im Fi­nale mit dem Polster an seiner Brust erstickt und sie — weil danach ja doch noch ein paar Tak­te zu singen sind — kurzfristig wieder aufersteht… Auch wenn Otello zum »Esultate« wie der Kasperl aus der Kiste auftaucht und, auf einer solchen stehend, seinen Siegesruf mit nämlichem Animo ins Rund haucht. Man vermöchte…

»Otello«, 3. Akt: Vladislav Sulimksy als Iago © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Otello«, 3. Akt: Vladislav Sulimksy als Iago

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

VI.
…wenn es denn die Bereitschaft des Staatsopernorchesters gäbe, an der Vorstellung über einen »Dienst« hinaus mitzuwirken. Davon war allerdings, einige Ungenauigkeiten der Bläsern seien bei­spiel­haft angeführt, wenig zu bemerken. Was, bitte, sollte der plötzliche Aufschrei der Klarinette im vierten Akt?

Wollte Myung-Whun Chung ergründen, wie gut er beim Orchester angeschrieben ist: Die Tat­sache, daß ein Substitut als Konzertmeister fungiert (wenngleich begleitet von Josef Hell als Stimm­führer), gäbe ihm schon die rechte Antwort darauf. Chung dirigierte also Verdis Partitur straff und direkt, ohne Atem, ohne Animo. Ohne Einsätze für die Bühne. Und ist hin und wieder ein wenig zu laut. 

Doch diese Partitur müßte viel mehr glühen; — wenn man denn über die rechten Sänger ver­füg­te. Aber diese waren offensichtlich anderswo…

VII.
Vladislav Sulimsky, 2018 als Graf Tomski in der Salzburger Pique Dame zu erleben, debutiert in der Partie des Iago im Haus am Ring. Sein Bariton klingt oftmals stark forciert und unfrei; in der Höhe kraftlos; ohne Zentrum. Damit begibt sich Sulimsky jeder musikalischen Gestaltung. Doch müßte jede Phrase — so man denn über die Fähigkeit zum legato verfügt — modelliert, die Far­ben gewechselt werden: zynisch wider Emilia, auftrumpfend gegenüber Cassio und Roderigo, schmei­chelnd zu Otello. Nicht oft erklingt das »Credo« so nebenbei gesungen. Ernstgemeinte Glaubensbekenntnisse hören sich anders an.

VIII.
Margarita Gritskova demonstriert eindrucksvoll, daß einen selbst die Partie der Emi­lia stimmlich Probleme zu bereiten vermag. Jinxu Xiahou hinterläßt, trotz einigem Metall in der Stimme, als Cassio einen besseren Eindruck als Aleksandrs Antonenko in der Titelpartie. Und Jongmin Park leiht dem Lodovico seinen samten klingenden Baß, der nur den Fehler besitzt, daß es immerwährende Lautverfärbungen schwierig machen, zu hören, wovon er gerade singt. Dabei ist Wortdeutlichkeit der erste Schritt zum Erfolg.

»Otello«, 4. Akt: Olga Bezsmertna (Desdemona) beim »Ave Maria« © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Otello«, 4. Akt: Olga Bezsmertna (Desdemona) beim »Ave Maria«

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

IX.
Olga Bezsmertna gelingt es, als Desdemona den Abend ohne Bruststimme zu bestreiten. Fortgesetzte Wortundeutlichkeit, fehlendes legato und scharf klingende Höhen sind der Lohn. Mit Operngesang, wie ihn die Alten boten, hat Bezsmertnas Tun wenig gemein. Was nützt hie und da eine aufblühende Phrase im oberen Register, wenn es dem ganzen am Fundament gebricht? Denn über dem passaggio fehlt es an Volumen, an Durchschlagskraft.

Dabei stellt Noble keine großen darstellerischen Anforderungen an die Sängerin, gewährt ihr, im Gegenteil, den vierten Akt zu ihrem zu machen. »Sottovoce« notierte Verdi beim »Ave Maria«, doch mehr als ein falsch verstandenes Säuseln vermag Bezsmertna nicht zu liefern. An­dere werden dies mit »innig« und »verletzlicher Stimmgebung« und was sonst noch für Aus­flüch­ten um- und schönschreiben: Es bleibt allerdings, die großen Vorgänger belegen es, Er­geb­nis gesangstechnischer Unzulänglichkeiten. Für ein Engagement an einem großen Haus ist das zuwenig.

X.
Der Otello des Aleksandrs Antonenko entpuppt sich bereits beim »Esultate« als inadäquat. Die Stimme des gebürtigen Letten klingt den ganzen Abend hindurch überanstrengt und rauh. Die Gran­dez­za des Feldherren verkörpert er ebensowenig stimmlich glaubwürdig wie den an der Treue seiner Frau zweifelnden Ehemann. Zu sehr singt Antonenko mit großen Druck auf den Kehlkopf, als daß sich zu Gemüte gehende Phrasen einstellen wollen. Und wenn, dann ist es Verdis Musik und Instrumentation, nicht sein Tun, das uns vermittelt, daß hier ein Mensch an sich selbst scheitert.

Bereits das Liebesduett am Ende des ersten Aktes vermag uns Otello nicht in seiner ganzen Größe zu zeigen. Dazu reichen Antonenkos stimmliche wie musikgestalterische Mittel an diesem Abend nicht aus. Seinem Otello stehen zu wenige Stimmfarben zur Verfügung, als daß wir mit ihm leiden wollen.

XI.
Man mag es drehen und wenden wie man will: In Wien verkleiden sich Premièren neuerdings als un­ter­durch­schnitt­liche Repertoire-Vorstellungen.

  1. Samuel Taylor Coleridge: »Notes on Othello«; veröffentlicht in »Coleridge’s Lectures on Shakespeare«, London, 1907.
  2. Franco Abbiati: »Giuseppe Verdi« (4 Bände), Ricordi, Milano, 1959. Brief an Giulio Ricordi vom 22. April 1887.

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