» La bohème «, 2. Akt: Das Café Momus im Bühnenbild von Franco Zeffirelli und den Kostümen von Marcel Escoffier © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» La bohème «, 2. Akt: Das Café Momus im Bühnenbild von Franco Zeffirelli und den Kostümen von Marcel Escoffier

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Giacomo Puccini:
» La bohème «

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Was sah ich? Was bleibt haften von diesem Abend? Vera-Lotte Boeckers rechtes Knie. Die Gelassenheit des Esels vor Parpignols Karren. Die Ernsthaftigkeit, mit der ein kaum schulpflichtiger Piccolo spielte. Das Finale des vierten Aktes: Musik, die sich als » unkaputtbar « erweist.

II.
Enttäuschend: das Dirigat von Eun Sun Kim. Militärisch straff. Sauber exekutiert, wie man das vielleicht mag in San Francisco. Doch wenig flexibel. Starre Tempi. Und große, spiegelbildliche Dirigierbewegungen, welche das Staatsopernorchester zu entsprechendem Spiel animierte: an vielen Stellen zu laut; und zu grob. Verismo in Schwarzweiß. — Auch in der dritten Vorstellung gab es hörbar Koordinationsprobleme mit der Bühne, nachdirigierte Einsätze (vor allem bei den Chören im zweiten, aber auch im dritten Akt). Kein Vergleich mit den Arrivierten der Branche. (Schon gar nicht mit den Großen der Vergangenheit, und nicht nur in deren Studio-Produktionen.) Kims Leistung hielt nicht, was die Anpreisungen verheißen hatten.

III.
Martin Häßler als Schaunard: der brave Junge aus gutem Haus, der sich, ich weiß nicht wie, in diese Gesellschaft von bohèmiens verirrt hat. Des Musikers Können finanziert den Weihnachtsschmaus. Dafür mag man ihn in der Wohngemeinschaft: die ordnende Hand. » Brav « auch Häßlers gesanglicher Vortrag; vorne, an der Rampe, wo sein Bariton weitgehend legato-frei die Orchesterwogen zu durchpflügen versteht.

Colline ist der zweite Comprimario im Quartett. (Schon das beginnende 20. Jahrhundert hatte wenig Verwendung für Philosophen zur Erklärung der gesellschaftlichen Herausforderungen jener Zeit.) Nicholas Brownlee verlieh ihm bei seinem Haus-Debut Spiel und Stimme. Nicht unhübsch, was man zu hören bekam (wenngleich mit mancher Unebenheit): ein basso leggero, in statu nascendi allerdings.

Der Marcello war bei Clemens Unterreiner in guten Händen. Kraftvoll, kernig die Stimme. Gemeinsam mit Bernheims Rodolfo am besten zu hören.

» La bohème «, 1. Akt: Nicole Car bei ihrem Rollen-Debut als Mimì an der Wiener Staatsoper © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» La bohème «, 1. Akt: Nicole Car bei ihrem Rollen-Debut als Mimì an der Wiener Staatsoper

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

IV.
Vera-Lotte Boecker sang die Musetta bei ihrem Wiener Rollen-Debut mit luftiger, kleiner Stimme. Boecker scheint mir, was bei Schnitzler das süße Wiener Mäd’l war. Die Musetta nahm ich ihr jedenfalls nicht ab: zu studiert wirkte Boeckers Spiel im Café Momus. Outrage. Gesanglich drohte ein paar Mal das Ertrinken in den Orchesterwogen. Die Ursache (einmal mehr): die fehlende Aktivierung des Brustregisters. (La physique … Was soll man da machen?) Wenn während Quando me’n vo’ der Blick zum Tisch der bohèmiens schweift, anstatt von der Sängerin vokalem Feuerwerk gefesselt zu werden: Darf man dann anmerken, daß gesanglich Gröberes nicht in der Ordnung sein kann?

V.
Auch mit der Mimì der Nicole Car wurde ich nicht glücklich. Merke: Wer in einer fremden Dachkammer das Bewußtsein verliert, dem entgleitet auch der Kerzenhalter. (Lernt man so etwas heute nicht mehr?) Details? Nicht unbedingt, wo doch das » Theater « im Vordergrund stehen soll. (Anstelle der Darstellung mit der Stimme.) ... Auch hier: wenig stimmliches Fundament; darüber eine enge, angestrengt klingende obere Mittellage. Wechselnde Stimmfarben innerhalb einer Phrase. Offene, unfreie Spitzentöne; mitunter Ungehörtes, weil unhörbar … Schade.

» La bohème «, 2. Akt: Benjamin Bernheim als Rodolfo im November 2018 © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» La bohème «, 2. Akt: Benjamin Bernheim als Rodolfo im November 2018

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

VI.
Der Tenor von Benjamin Bernheim: metallischer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Dabei durchaus kompakt und, vor allem vor der Pause, in — zumal für unsere Zeiten — sehr guter stimmlicher Verfassung. Dieser Rodolfo: ein echter bohèmien. Immer wieder der Versuch, Theater zu spielen: Mit Unterreiner gelingt’s; mit Car weniger. Und immer wieder das Bemühen um die Darstellung mit der Stimme. Una terribil tosse … Bernheim versucht alles, doch wird er — und nicht nur hier — von Kim im Stich gelassen. Die drängenden Momente, die herzbewegenden im Leben dieses Malers und der Näherin: Sie stellen sich nicht ein an diesem Abend.

VII.
Repertoire-Niveau. Dagegen kann niemand etwas haben, fielen die entsprechenden Ankündigungen modester aus. Nur weil man dreimal gut singt, ist man noch kein Star, sagte die große Christa Ludwig einmal.

Die wahre Großtat des von manchen verächtlich als » Tanker « bezeichneten Hauses in diesen Wochen: bei den Abenden keine Kompromisse einzugehen. Eine Produktion wie La bohème mit Chor, Extrachor, den Kindern der Opernschule und der Komparserie auf die Bühne zu wuchten; — anstatt mit zugespielten Chören und dezimierten Partituren zu arbeiten wie andernorts.
Sie sind mir kostbar geworden, diese Stunden (fast) uneingeschränkter Normalität.

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