»Andrea Chénier«, 2. Akt: Orhan Yildiz, rechts, als Roucher und Yusif Eyvazov als Andrea Chénier bei seinem Rollen-Debut an der Wiener Staatsoper © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Andrea Chénier«, 2. Akt: Orhan Yildiz, rechts, als Roucher und Yusif Eyvazov als Andrea Chénier bei seinem Rollen-Debut an der Wiener Staatsoper

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Umberto Giordano:
»Andrea Chénier«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Man gibt einen »Reißer« der Opernliteratur; doch der Abend läßt einen seltsam kalt. Zeigt Längen. Vermag in keiner Szene jenes Feuer, jene Leidenschaft zu entfachen, derentwegen wir diese Kunstform doch so lieben. Ein Paradoxon: Gerade, wenn das Institut sein 150-jähriges Bestehen zu feiern gesonnen ist, schwächelt es.
(Es kommt halt immer etwas vor.)

II.
Anna Netrebko gibt sich die Ehre... Und das Publikum strömt wie weiland zur Callas, auch als deren stimmliche Schwächen nicht mehr zu überhören waren. Hier wie da läßt/ließ das Er­geb­nis, nüchtern betrachtet, zu wünschen übrig. Doch hier wie da herrscht(e) trunkene Seligkeit…

Anna Netrebko stellt sich also dem Wiener Publikum als Maddalena vor. Und weil, was an­dern­orts vielgepriesen wird, auch gut sein muß, mit großem Erfolg. Leider ver­wech­seln viele Anwesende eine erfolgreiche Karriere mit gutem, weil technisch richtigem Gesang. Doch sind dies zwei verschiedene Dinge.

Manche werden mir entgegenschleudern, daß hier die »primadonna assoluta« unserer Tage auf der Bühne steht. Jene lade ich ein, doch unvoreingenommen zuzuhören. Sie werden nicht um­hin­kommen, die immer stärker hörbar werdenden, stimmtechnischen Mängel festzustellen1: zum Beispiel den fehlenden Gebrauch der Bruststimme; jenes Fundaments also, darauf die menschliche Stimme fußt. Oder die durch die veränderte Position des Kehlkopfes angestrengt klin­gende höhere Mittellage, vor allem im ersten und zweiten Akt (»Ecco l‘altare«). Man hört den ganzen Abend hindurch den enormen Krafteinsatz bei der Tonproduktion. Man erahnt die hohe Kehlkopfposition bei den Spitzentönen, welche Netrebkos Stimme des öfteren scharf klin­gen läßt. Chiaroscuro war gestern.

Selbst ostentativ gespendeter Beifall nach »La mamma morta« vermag nicht darüber hin­weg­zu­täuschen, daß diesmal stimmlich einzig Netrebkos Fähigkeit zum legato auf der Habenseite steht; ausgespielt vor allem im Bereich knapp oberhalb des passaggio. So geht diese Maddalena denn auch an einigen Stellen in den Orchesterwogen unter…

»Andrea Chénier«, 4. Akt: Anna Netrebko (Maddalena di Coigny) und Yusif Eyvazov (Andrea Chénier) im Finale der Oper © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Andrea Chénier«, 4. Akt: Anna Netrebko (Maddalena di Coigny) und Yusif Eyvazov (Andrea Chénier) im Finale der Oper

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III.
Yusif Eyvazov als Andrea Chénier gelingt das Kunststück, mich in dieser Partie gleichgültig zu lassen. (Solches ist schwer. Aber möglich.) »Un dì all’azzurro spazio« zieht ebenso ausdruckslos vorüber wie das »Sì, fui soldato«, welches von wenigen, Mitleid empfindenden Besuchern mit zögerlichem Applaus bedacht wird. Der doch ebenso rasch wieder erstirbt. Auch »Come un bel dì di maggio« fehlt es an Kraft, an Feuer; berührt nicht.

Eyvazovs Stimme eignet ein ungesundes, langsames Vibrato. Darüberhinaus ist er nicht gegen den Versuch immun, die Spitzentöne, wiewohl nicht im falsetto, so doch mit hochgestelltem Kehl­kopf anzusteuern. In diesen Passagen (und deren gibt es einige in Giordanos Partitur) klingt Eyvazovs Stimme seltsam gequetscht. (Auch er singt im Bereich oberhalb des passaggio mit viel Druck gegen einen sich schließenden Kehlkopf an.) Es ist nur eine Frage von wenigen Jahren, bis auch Eyvazovs Stimme mangelnder technischer Fähigkeiten wegen verglüht sein wird. Die Kunst des legato: Sie scheint dem Sänger heute schon keine Anstrengung wert…

So muß ich denn, der ich Anja Harteros und Jonas Kaufmann im letzten Frühling zauste, Ab­bitte leisten: Im Vergleich zu dieser Vorstellung sang man vor Jahresfrist besser; viel besser.

IV.
Auch Luca Salsi bleibt hinter den in ihn gesetzten Erwartungen zurück. (Eine Diskussion der Um­stände, warum der ursprünglich angesetzte Marco Vratogna nicht zum Zuge kam, gehört nicht hierher.) Die Eröffnungsszene »Compiacente a’colloqui« absolviert dieser Carlo Gérard Töne pro­du­zie­rend, keine Phrasen. Selbst in »Nemico della patria?« strahlt Giordanos Genie viel heller als Salsis sängerische Bemühungen… Wie reich beschenkte uns doch Roberto Frontali vor einem Jahr mit seiner Interpretation! Wie stark stehen die damals empfangenen Eindrücke noch vor meinem Auge. Die »vorteilhafteren Umstände«, welche ich mir für Salsi anläßlich seines Haus-Debuts als Nabucco wünschte: Sie traten nicht ein.

»Andrea Chénier«: Ensemble-Szene im 2. Akt © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Andrea Chénier«: Ensemble-Szene im 2. Akt

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

V.
Seltsam indifferent präsentiert sich auch der instrumentale Beitrag zu diesem Abend: Das Cello-Solo in der Einleitung zu »La mamma morta« erklingt betörend, ebenso jene die Marseillaise zi­tie­rende Passage im zweiten Akt. Melodisches Schwelgen im Angesicht revolutionären Terrors… Dafür peitscht Maestro Marco Armiliato das Staatsopernorchester durch das »Ça ira«, als gelte es, einen Geschwindgkeitsrekord zu brechen. Dies führt, ebenso wie die Einleitung zum ersten Akt, zu einigen Irritationen im Graben. Überhaupt vertraut der Maestro an diesem Abend mehr der Lautstärke denn den großen Bögen. Dadurch gerät auch der Staatsopernchor das eine oder andere Mal außer Tritt; findet nicht immer mit dem Graben zusammen. Ich hörte schon Besseres von Armiliato…

VI.
Da stehe ich also, mit den besten Absichten gegen das Institut. Aber ich kann doch nicht leug­nen, was ich höre, nicht totmachen, was in meinem Inneren lebt: die Erkenntnis nämlich, daß durchschnittliches Repertoire-Niveau für Feierstunden nicht taugt.

  1. Melomanen seien zwei Aufnahmen empfohlen, welche den Unterschied zum Hier und Jetzt auf’s erste Hö­ren deutlich werden lassen: zum einen der Live-Mitschnitt aus der Wiener Staatsoper vom 25. Juni 1960 unter der Stabführung von Lovro von Matačić, mit Renata Tebaldi, Margareta Sjöstedt, Franco Corelli und Ettore Bastianini (»Wiener Staatsoper Live«, Orfeo C 682062 I), zum anderen die Stu­dio­auf­nah­me aus dem Jahr 1957: Gianandrea Gavazzeni dirigiert Orchestra e Coro dell’ Academia di Santa Cecilia, Roma. Renata Tebaldi, Fiorenza Cossotto, Mario del Monaco, und Ettore Bastianini führen die Besetzung an (DECCA 425 407-2). Tebaldis Stimme ließ 1960 bereits Zeichen jener Stimm­krise hören, von der sie sich nie wieder vollständig erholen würde (so manche hohe Passage klingt scharf). Bedenkt man, daß beide Damen im lyrischen Sopranfach zuhause sind (bzw. waren), wird der ge­neig­te Zuhörer die Einsicht nicht verweigern, daß Tebaldis Stimme selbst im Live-Mitschnitt im Vergleich zu jener Anna Netrebkos frisch und klar klingt.

    Interessierte seien auch auf Gina Cignas (1900–2001) Aufnahme von »La mamma morta« aus dem Jahr 1931 oder Maria Callas’ (1923–1977) Live-Mitschnitt vom 8. Jänner 1955 aus dem Teatro alla Scala di Milano (unter Antonio Votto) hingewiesen. Man höre sich an, mit welcher Klarheit im Ton, welcher Text­ver­ständ­lich­keit, welch stimmlicher Gestaltungskraft die beiden Damen zu Werke gehen. Tempi passati…

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