Giacomo Puccini:
» Madama Butterfly «
Opéra national de Paris
Von Thomas Prochazka
II.
Robert Wilsons Umsetzung bietet für Opernfreunde keine Überraschungen. Er ließ sich vom japanischen Noh, der ältesten heute noch praktizierten Theaterform Japans, inspirieren.1 Alle Sänger tragen lange, steife Gewänder asiatischer Anmutung (Kostüme: Frida Parmeggiani). Das Bühnenbild beschränkt sich auf wenige Requisiten, auf dem Boden gemalte Abschnitte in großteils dunklem Blau, welche A. K. Weissbard nach Heinrich Brunkes und Robert Wilsons originalen Vorstellungen je nach szenischer Erfordernis entsprechend ausleuchtet. Das von B. F. Pinkerton erworbene Haus hebt sich als hölzerne Fläche neben einem aus Bohlen gezimmerten Steg vom dunkelblauen Bühnenboden ab; ebenso der vom Hafen ansteigende, gewundene Pfad. Der Bühnenhintergrund wird entsprechend der Stimmungen ausgeleuchtet. Der Regisseur nutzte das steil ansteigende Auditorium der Opéra Bastille zu seinem Vorteil, integrierte die Sicht von oben in die Produktion. Nichts scheint dem Zufall überlassen: Die Amerika zuzurechnenden Personen tragen weiße Kostüme, jene Asiens schwarze. Cio-Cio-San tritt weiß gewandet auf. Ab dem zweiten Akt trägt auch sie schwarz, im Gegensatz zu ihrem Sohn: Hinweis drauf, daß Cio-Cio-San auch ihren Sohn verlieren wird.
Die saturngleiche Reduktion über das Wünschenswerte hinaus erhebt diese Inszenierung zu einer durchaus gelungenen Regisseurs-Theater-Produktion: für Fortgeschrittene. … Für jene, welche glauben, beim Opernbesuch keiner Hilfestellung durch Bühnenbild, Kostüme und Schauspiel mehr zu bedürfen. Die, traditionelle Produktionen kennend, einmal etwas anderes sehen wollen. Alle anderen verzweifeln an der erforderlichen Decodierung der Wilson’schen Chiffren. Wieder einmal stellt sich die Frage nach dem, was eine Operninszenierung leisten muß, um den Großteil der Besucher emotional zu erreichen. Denn: Emotionen, Mitleid gar mit der einst 15-jährigen Braut entfacht M Wilsons Arbeit nicht. Wieder einmal obsiegt die Ratio.
III.
Als einmaliges Erlebnis und von der handwerklichen Perspektive aus gesehen scheint diese Produktion gelungen; besser jedenfalls als Anthony Minghellas New Yorker und Wiener Annäherung an den Broadway.
Gelungen — auch — unter den Bedingungen des Abends vom 25. Oktober: Mme Stikhina sagte kurzfristig ab. Alexandra Marcellier, eilig herbeigeholt, sang die Cio-Cio-San vom Bühnenrand aus. Marina Frigeni, Regie-Assistentin an der Opéra national de Paris, spielte. Mlle Marcellier hatte die » Madama Pinkerton « bereits in Frankfurt und an der Opéra de Marseille gesungen.
Marina Frigeni arbeitet seit 1994 mit Robert Wilson und verantwortete die Neueinstudierung des Werkes an der Opéra. Ihr Spiel der Cio-Cio-San war intensiv. Es lebte von vielen langsamen, zeremoniell anmutenden Armbewegungen. Und darin liegt das Problem dieser und vieler anderer von Robert Wilson verantworteten Produktionen: Jede Konzentration auf die Darstellung der Figur lenkt einen Sänger von der musikalischen Gestaltung ab. Nicht nur während Un bel dì, vedremo
fordert diese Inszenierung mit ihren langsamen, ausladenden Armbewegungen von der Sängerin der Titelpartie enorme Muskelanspannungen. Eine auf den Gesang fokussierte Leistung, bei der unzählige Rumpfmuskeln unaufhörlich miteinander interagieren, scheint unter solchen Umständen kaum möglich. Einmal mehr wird so die stimmliche Gestaltung der (in der Partitur nicht geforderten) Darstellung geopfert. Regisseurs-Theater.
Die Aufteilung der Partie der Cio-Cio-San in Spiel und Gesang diesfalls also: vorteilhaft, wenngleich geboren aus der Not. Interessant auch, wie Alexandra Marcellier, die im ersten Akt kaum von ihrem Pult wich, bei Un bel dì, vedremo
daneben trat, sich frei sang und ihre Gefühle auch gestisch ausdrückte. Ab dann: befreiteres Singen, nochmals besonders zu bemerken im Finale. Ein untrügliches Zeichen, daß Gesang und Spiel ineinandergreifen, eines des anderen bedarf.
Mlle Marcellier bot, vor allem angesichts der Umstände, eine gute Leistung. Ihrer Sopran-Stimme eignet, wie jenen ihrer meisten Kolleginnen, eine schwach ausgebildete unteren Oktave. Dieser fehlenden Balance wegen klangen die Spitzentöne hell und schärfer als erwünscht. Mlle Marcellier ist eine Cio-Cio-San für mittlere und kleinere Häuser.
IV.
Speranza Scappucci leitete eine kurzweilige Wiedergabe der Partitur. Wo der Abend unter Giampaolo Bisanti in Wien wenige Wochen später gefährliche Längen aufwies, fand Mme Scappucci die richtigen Tempi.
Im Orchestergraben aufgestellte Mikrophone sowie das Klangbild waren mir Indiz dafür, daß man an der Opéra Bastille Sänger und Orchester elektroakustisch verstärkt. Das Orchester — besonders die Streicher mit ihren pizzicati im » Summ-Chor « und die Harfe — klangen auf der Galerie sehr prägnant und metallisch. (Da hörte ich in Wien wenige Wochen später anderes.) Alle Sänger, gleichgültig, wo sie sich auf der Bühne bewegten, waren gleich gut zu vernehmen; der Ton kam immer aus derselben Richtung. Doch in Paris scheint niemand mehr Anstoß daran zu nehmen, daß Carlo Bosi in der Partie des Goro gleichermaßen präsent ist wie Stefan Pop als B. F. Pinkerton. Die Unterschiede im Gesang waren vor allem im Stimmsitz und der Art der Tongebung auszumachen. Vorbei scheinen die Zeiten, welche boten, was die Kunstform Oper auszeichnete: menschliche Stimmen, die durch Schulung und Training in der Lage waren, einen großen Raum ohne Hilfsmittel nuanciert zu beschallen und dadurch die Zuhörerschaft zu berühren.
V.
Den gesanglich stärksten Eindruck hinterließ mir Christopher Maltman als Sharpless. Er brachte das Kunststück zuwege, dieser — oft unterschätzten — Partie stimmliches Profil zu verleihen. — Ja, der amerikanische Konsul muß sich vor allem mit Duetten begnügen. Doch in der Szene mit B. F. Pinkerton im ersten Akt wie auch später sollten seine Mahnungen, die Verzweiflung über Cio-Cio-Sans Weigerung, die Wahrheit betreffend B. F. Pinkertons Untreue zu akzeptieren, die gesanglichen Antworten seiner Partner färben. Maltman bot eine tadellose Leistung. Daß sein Bariton mitunter rauh klang, manche Phrasierung auf der Strecke blieb: die Narben einer ansehnlichen Karriere, wohl garniert mit manchem Ausflug in stimmschädigende Gefilde.
In der Partie der Suzuki überraschte Aude Extrémo mit einem sehr dunkel, fast schon nach einer Altstimme klingenden Mezzosopran. Der Kontrast zum Sopran von Mlle Marcellier verlieh der Aufführung einen zusätzlichen Reiz.
Und Stefan Pop als B. F. Pinkerton? Ich will es so formulieren: Seine Leistung in Addio fiorito asil
in der Ankündigung der Opéra national de Paris schmeichelt dem an jenem Abend Gebotenen. Über dem passaggio verengte sich Pops Stimme zusehends, die Spitzentöne klangen offen und verspannt. Kein coperto. Im Duett mit Sharpless vemißte ich die notwendige stimmliche Leichtigkeit wider des Konsuls moralische Einwände gegen die Verbindung mit einer 15-jährigen Geisha. Für die von Puccini geforderten Steigerungen im Liebesduett vor der Hochzeitsnacht fehlte es Pops Stimme an der notwendigen Kraft.
VI.
Dieser Abend bezog seinen Reiz aus der guten musikalischen Leitung und dem Eintauchen in Robert Wilsons nüchterne Regie-Welt: Regisseurs-Theater für eine Stagione-Welt.
- Die Theaterform Noh hat ihren Ursprung im 14; Jahrhundert. Noh wurde traditionell nur von Männern getanzt und gespielt. Erst seit ca. 100 Jahren gibt es auch weibliche Noh-Darsteller. Die Stücke handeln zumeist von traditioneller chinesischer und japanischer Mythologie oder Literatur. (Das Wort » Noh « stammt aus dem kango und bedeutet soviel wie Geschick, Fertigkeit oder Talent.) ↵