Charles-François Gounod: » Faust «
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
Man spielt also wieder Faust an der Wiener Staatsoper. Oder zumindest, was Frank Castorf seinerzeit für die Staatsoper Stuttgart dazu einfiel. (Sehr viel. Zu viel.) Den im Stream noch gezähmten Bildermassen stemmt sich bei der Begegnung im Haus nur der Wille des Besuchers entgegen, sich auf die Musik, den Gesang zu konzentrieren. Doch zu überwältigend drängt sich das vom Spielvogt ersonnene Trommelfeuer in den Vordergrund. Mitunter bespielt Castorf mehrere, in die Szene integrierte Leinwände mit Videos. Dabei läßt er vorbereitete Sequenzen des nächtlichen Paris aus unserem Jahrtausend mit alten Werbefilmen abwechseln. Mischt das alles mit Live-Aufnahmen von auf der Bühne weithin sichtbaren Kamera-Teams, die die Sänger auch dann verfolgen, wenn sie, erinnert man sich an das Libretto, gar nicht auf der Bühne sind (Live-Kamera und Bildgestaltung: Tobias Dusche und Daniel Keller). Martin Andersson koordiniert die völlig überflüssigen Videos. Und wenn es hin und wieder einmal falsche Bilder oder technische Identifikationssequenzen bis auf die Leinwände schaffen, spielt das keine Rolle; denn mit Jules Barbiers und Michel Carrés Libretto, mit Charles Gounods Komposition weiß dieser Abend ohnedies nichts Rechtes zu beginnen. Dafür dürfen die Sänger Gedichte von Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud rezitieren, die deutsche Übersetzung gibt’s auf der Leinwand und den Untertiteln zu lesen. Wer bisher keinen Zusammenhang zwischen Johann Wolfgang von Goethes Hauptwerk, Baudelaire, Rimbaud und Gounods Oper herzustellen wußte, kann diese Bildungslücke nun schließen. (Die Wiener Staatsoper erfüllt damit ihren Bildungsauftrag.)
III.
Bildgewaltig? Castorf verlegt die verschränkten Duette im dritten Akt, die doch im Garten vor Marguerites Haus spielen sollen, in die Dachkammern eines schäbigen kleinen Hauses an der Metro-Station Stalingrad. Aus den Luken wird abwechselnd gesungen, wer mehr sehen will, muß mit den Live-Bildern auf den Leinwänden vorlieb nehmen.
Auch mit dem Chor weiß der vielleicht einflußreichste Regisseur der deutschsprachigen Theaterwelt in den letzten 20 Jahren
(© Website der Wiener Staatsoper) nichts anzufangen. In der Walzer-Szene des zweiten Aktes versammelt sich alles an der Rampe, schwenkt schunkelnd Coca Cola-Fähnchen. Bei der Wiederkehr des Walzerthemas nimmt man erneut Aufstellung: in — nein, welch ein Zufall! — derselben Formation wie zuvor. Chor-Rampensingen als Fortschritt. Andere Chorszenen gestalten sich ähnlich. Ein Wogen, ein natürliches sich Durchmischen der Menge gibt es bei Castorf nicht. Und wenn die aus dem Algerienkrieg heimgekehrten Soldaten die abgeschlagenen Köpfe der Feinde an der Rampe ablegen, ehe es ans Singen geht, beim Abgang mit den Köpfen Fußball spielen, gleitet die Szene vollends ins belanglos Lächerliche ab.
Ich bin überzeugt, daß, wie bei so vielen Werken des Kanons, der Hauptgrund für Fausts Weg in den Mülleimer die offensichtliche Unmöglichkeit ist, es gut zu besetzen.
Conrad. L. Osborne
Worum geht es in Gounods Faust? Um Krieg? Um Gut und Böse? Um die Kirche? Conrad. L. Osborne schrieb in seinem Beitrag MIA: Gounod’s “Faust”: Faust handelt von Marguerites Erlösung, und jeder, der damit Schwierigkeiten hat, sollte das Werk in Ruhe lassen.
Darüber lohnte es sich nachzudenken.
IV.Ich bin überzeugt, daß, wie bei so vielen Werken des Kanons, der Hauptgrund für Fausts Weg in den Mülleimer die offensichtliche Unmöglichkeit ist, es gut zu besetzen.
1 Ich fand Osbornes Ansicht bestätigt: Mit Ausnahme Étienne Dupuis’ als Valentin wurde kein Sänger den stimmlichen Anforderungen seiner Partie gerecht. Niemand soll das Bemühen abgesprochen werden. Doch ist nicht von den Bemühungen zu berichten, sondern den Leistungen. Solange die technischen Schwierigkeiten einer Partie hörbar bleiben, ist an eine künstlerische Gestaltung, eine Interpretation derselben nicht zu denken. Und die Kunst des legato bildet nun einmal die Grundlage allen klassischen Gesangs.
Étienne Dupuis schien mir besser bei Stimme als im April, mit mehr Ausdruck, vollerem Ton. Die Kavatine des Valentin, Avant de quitter ces lieux
, aus dem zweiten Akt komponierte Gounod übrigens auf Wunsch des Baritons Charles Santley für eine Reihe von Aufführungen am Her Majesty’s Theatre in London (Jänner 1864). An der Opéra in Paris entsprach man bis zum Zweiten Weltkrieg Gounods Willen, die Kavatine nicht aufzuführen.
V.
Auch Margaret Plummer in der Partie des Siebel klang mir besser als Kate Lindsey. Plummer ließ gute Ansätze hören, wenngleich selbst in Castorfs Lesart des Werkes mehr an musikalischer Gestaltung möglich scheint. Monika Bohinec war eine rollendeckende Marthe Schwerlein. Ilja Kazakov, Mitglied des Opernstudios, debutierte als Wagner mit durchaus noch ausbaufähigem Bariton, vor allem, was die Phrasierung betrifft.
Nach der kurzfristigen Absage von Stephen Costello übernahm Francesco Demuro die Partie des Faust. Das klang aus dem Mund des Staatsoperndirektors heroischer, als es war. Denn Demuro weiß um diese Inszenierung, sang in dieser 2017/18 in Stuttgart. Einspringer-Bonus hin oder her, die technischen Mängel waren unüberhörbar: Über weite Strecken klang Demuros Tenor flach, in der Höhe oftmals eng; gequetscht. Legato? — Fehlanzeige. Ich fürchtete um viele Töne (nicht einmal mehr Phrasen). Man bedenke: Es geht hier nicht um die Spezifika einer Partie, einer Produktion; sondern um Grundsätzliches. Wuchert Demuro nicht schon längst mit seinem Kapital?
VI.
Adam Palka war wieder die Partie des Teufels anvertraut; mehr Springinkerl denn Méphistophélès. Täuschte ich mich, oder dunkelte Palka seine Stimme künstlich ab, damit sie sonorer klinge? Nun, sie tat es nicht. Mit Fortdauer des Abends, als Müdigkeit sich einschlich, wurde seine Stimme szenenweise heller; — die Höhen ausdruckslos, die tiefen Töne ohne Volumen. (Ich sagte es bereits.) Diesem Méphistophélès gebrach es an der für die Partie unabdingbaren stimmlichen grandezza, nicht nur für Le veau d’or
.
VII.
Rachel Willis-Sørensen sang ihre erste Marguerite im Haus am Ring. So günstig mir der Eindruck ihrer Desdemona war, so enttäuschend ihre Marguerite. Immer wieder brach die Linie, fehlte es am inneren musikalischen Zusammenhalt; — nicht nur in Il était un roi de Thulé
. Auch die gesangliche Gestaltung von Ah ! je ris
ließ zu wünschen übrig. Hier wie da derselbe Grund: die zu geringe energetische Aktivierung der unteren Stimmfamilie, das muskuläre Ungleichgewicht. Entlarvend manche Großaufnahmen auf den Leinwänden: Sie gaben Zeugnis von den Verspannungen im Hals (häufigste Ursache flachen, kernlosen Tons). Viele mag Willis-Sørensens Spiel entschädigt haben. Wem Oper zuvörderst gesanglicher Ausdruck, Drama durch stimmliche Gestaltung ist, wird mit dieser Leistung nicht glücklich geworden sein. (Man investiere ein wenig Zeit und höre sich Helen Jepson an. Oder Dorothy Kirsten. Oder Anita Hartig.)
VIII.
Die Lichtblicke des Abends: Bertrand de Billy am Pult des Staatsopernorchesters und das Tun des Staatsopernchors. Bis in den zweiten Akt hinein waren ein paar Unstimmigkeiten zwischen Chor und Orchester zu verzeichnen, schien man sich über einige Einsätze nicht ganz einig. Danach lief’s gut. (Beeindruckend der Soldatenchor im vierten Akt.) Martialisch im Marsch, französisch flink im Walzer, raumgebend in Marguerites und Fausts Arien, bestätigte das Orchester einmal mehr seine Stellung im Haus. De Billy tat sein Möglichstes, die Dinge zu ordnen. Doch ohne Sänger kann man keine Oper spielen…
IX.Glauben Sie mir, man verkauft, was man will, wenn man sich aufs Verkaufen versteht. Darin ist unser Sieg begründet!
2 Trefflicher läßt sich diese Produktion nicht in Worte fassen.
Faust is about the salvation of Marguerite, and anyone who has trouble with that should leave it alone.
↵- Émile Zola (1840 – 1902):
Das Paradies der Damen
(Au Bonheur des Dames
, Paris, 1883). Übersetzung: Hilda Westphal. dtv, ISBN 978-3-423-14276-2, 5. Auflage, 2020, S. 98. [Diese Übersetzung weicht von jener im Beitrag des aktuellen Faust-Programmheftes der Wiener Staatsoper (S. 54) ab]. ↵