»Raymonda«, 1. Akt: Liudmila Konovalova, Jakob Feyferlik und das corps de ballet © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

»Raymonda«, 1. Akt: Liudmila Konovalova, Jakob Feyferlik und das corps de ballet

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Alexander Glasunow: »Raymonda«

Wiener Staatsballett

Von Ulrike Klein

Das Haus am Ring veranstaltet Mittelalterwochen: Nach der Burg Macbeths und dem Hof des schottischen Königs begeben wir uns nun in den Süden Frankreichs: an den Hof der Gräfin de Doris.

Marius Petipa schuf sein letztes großes Ballett zur Musik Alexander Glasunows. Die Uraufführung fand am 7. Jänner 1898 in St. Petersburg statt.

Den heutigen Erfolg dieses Werkes verdanken wir dem Tänzer und Choreographen Rudolf Nurejew, dessen erste Fassung im Juli 1964 zur Uraufführung gelangte. In den nachfolgenden Jahrzehnten kam es zu Neufassungen, unter anderem in Paris (1983) und Wien. Die Wiener Erstaufführung wurde im Jänner 1985 mit einer Doppel-Première gefeiert. Diese Produktion, die dann im November 1997 und zuletzt im Dezember 2016 neu einstudiert wurde, steht bis Mitte April wieder in wechselnden Besetzungen auf dem Spielplan.

In den Choreographien Nurejews wird immer wieder die enge Verbundenheit mit Petipa offenbar. Durch seinen Lehrer Alexander Puschkin, der bei Nikolai Legat, einem Schüler Marius Petipas, studierte, wird die Verbindung nahezu familiär. Einerseits überarbeitete Nurejew die Choreographien behutsam und beließ ganze Sequenzen (wie z.B. den dritten Akt der Raymonda) in der Originalfassung. Andererseits erneuerte er in großem Stil, wertete die Partie des Sarazenenfürsten Abderachman zur Hauptrolle auf. Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch die Charaktertänze: Das nahe Spanien mißt sich mit den Sarazenen, und mit dem ungarischen Tanz wird Andreas II., dem König von Ungarn, gehuldigt.

Es ist die Zeit der Kreuzzüge und der Troubadoure… Die Damen des Hofes warten auf die aus dem Heiligen Land heimkehrenden Männer und vertreiben sich die Zeit mit Musik und Gedichten. Es wird die Hochzeit Raymondas mit dem Ritter Jean de Brienne vorbereitet. — Im Traum erscheint dem jungen Mädchen der Ritter zum ersten Mal, rein und weiß. Den Gegenpol bildet Abderachman, dunkel und leidenschaftlich. Es ist das alte Klischee von Schwarz und Weiß, von Ost und West. Und — wie sollte es auch anders sein? — der brave Ritter, das Christentum, siegt über die sogenannten Ungläubigen.

Die Freundinnen Raymondas, Nikisha Fogo als Clémence und Natascha Mair als Henriette, mit ihren Begleitern Scott McKenzie als Bernard und Richard Szabó als Béranger eröffnen mit einem spielerischen pas de quatre. Sie werden Raymonda bei den Vorbereitungen zur Hochzeitsfeier und in ihrem Traum begleiten.

Nikisha Fogo wirkte bei ihrem Rollen-Debut noch etwas hölzern. Was die eine Freundin zu eckig wirkte, glich die andere, Natascha Mair, durch zu viel Biegsamkeit aus. Die beiden haben noch nicht die nötige Ruhe für sich gefunden. Auch wenn das Tempo sehr rasch ist, darf der Ablauf nicht hektisch wirken.

Da boten die beiden Herren doch wesentlich bessere Leistungen: Scott McKenzie — auch er mit Rollen-Debut — und Richard Szabó kamen gut mit ihren Herausforderungen zurecht; denn auch diese kleinen Partien sind mit ihren gegenläufigen Bewegungen nicht einfach zu tanzen.

Allerdings: Mit dem Auftreten Liudmila Konovalovas als Raymonda verstärkte sich nur noch der blasse Eindruck, den die beiden jungen Tänzerinnen hinterlassen hatten.

Mit Konovalova erschien eine Ballerina: präsent vom ersten Schritt an. Konovalovas Balance ist immer wieder bewundernswert. Die erste Solistin ruht in sich, ist auf dem Punkt. Auch in den temporeichsten Schrittfolgen begeht sie nicht den Fehler, in Hektik zu verfallen. Akkurat und mit wunderbar fließenden Bewegungen stellt sie sich dem Marathon dieser Partie: Sieben Soli sind zu bewältigen — eine tour de force.

»Raymonda«, 3. Akt: Liudmila Konovalova in der Titelpartie © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

»Raymonda«, 3. Akt: Liudmila Konovalova in der Titelpartie

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Geplant war, daß Vadim Muntagirov als Gast in zwei Vorstellungen den Jean de Brienne tanzen würde. Seine Absage wurde schon vor geraumer Zeit bekannt. Da ist es schade, daß kein adäquater Ersatz gefunden werden konnte.

Denn leider stand Konovalova am gestrigen Abend ein Rollen-Debutant als Jean de Brienne zur Seite, der seiner Aufgabe nicht gewachsen war: Leonardo Basílio. Der junge Tänzer ist seit 2013 Ensemble-Mitglied des Wiener Staatsballetts, fiel in den Anfangsjahren immer wieder mit kleinen Soli positiv auf. Derzeit aber erfüllt er die Erwartungen nicht: Bereits in der weihnachtlichen Serie des Nußknacker wirkte Basílio eher so, als ob er auf der Bühne verlorenginge. Gestern: Da wurde unsauber gearbeitet, sowohl bei den Soli als auch in den pas de deux. Es sollte doch so sein, daß der Solist der Ballerina Begleitung ist; ihr Sicherheit gibt bei den geführten Touren — und vor allem bei den Hebungen. Gestern schien es eher so, als führte Konovalova Jean de Brienne durch die pas de deux. Man bangte bei den Hebungen um sie.

Es ist schon richtig, daß auch jungen Tänzern eine Chance geboten werden soll, sich zu profilieren. Und die Partie des Jean de Brienne erscheint dafür eigentlich wie geschaffen: nicht allzu groß und auch von der Darstellung doch eher eindimensional. Aber — so schwach darf eine Hauptrolle nicht besetzt werden: Es ist tragisch, wenn einem Tänzer die Orientierung im Raum fehlt…

Erfreulicherweise war mit Mihail Sosnovschi der Sarazenenfürst Abderachman auch fürstlich besetzt. Sosnovschi interpretierte Abderachman als werbenden Mann, der Raymonda für sich gewinnen möchte. Seine Soli sind eine Referenz Nurejews an die zeitgenössische Tanzsprache eines Paul Taylor und einer Martha Graham, die er sehr bewunderte. Und sie fügen sich ausgezeichnet in die klassische Choreographie ein. (Soll die Partie doch einen Gegenpol bilden.)

Kraftvoll und katzengleich zugleich beherrscht Sosnovschi die Bühne. Es ist auch Konovalova sofort anzumerken, daß sie jetzt einen ebenbürtigen Partner hat. Der zweite Akt entschädigt so für die Fehlbesetzung des Jean. Und fast hofft man, Raymonda möge sich für Abderachman entscheiden…

Wie ward’s um das Ensemble bestellt? Mit vielen Neuzugängen seit der letzten Aufführungsserie gab es auch hier zahlreiche Debuts. (Was sich denn in dem ein oder anderen »Hoppala« bei den Walzern und Charaktertänzen offenbarte. Die Proben sind halt immer zu kurz bemessen…) Doch im Laufe der Vorstellungen wird sich hier sicher einiges verbessern.

Letzteres gilt auch für die Leistung im Graben. Das Dirigat des Abend lag einmal mehr in den erfahrenen Händen von Kevin Rhodes. Aber auch im Staatsopernorchester gab es Neuzugänge und Substituten… (Sehr fein klang das Violinsolo von Volkhard Steude.)

Alles in allem muß man dankbar sein, dieses Werk im Repertoire zu haben. Es enthält viele sehr anspruchsvolle Schrittkombinationen, auch in den kleinen Partien. Und es gibt nicht viele Compagnien, die sich der Raymonda annehmen (können). Doch in Wien darf man sich — nach aktuellem Stand der Planungen — sogar auf vier verschiedene Besetzungen freuen.

Zwei Geburtstage werden mit dieser Serie gefeiert: jene der beiden Choreographen der Raymonda. Marius Petipas Geburtstag jährt sich am 11. März zum zweihundertsten Male. Und am 17. März feierte Rudolf Nurejew seinen achtzigsten Geburtstag.

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