»Werther«: Finale des 2. Aufzugs © Wiener Statsoper GmbH/Axel Zeininger

»Werther«: Finale des 2. Aufzugs

© Wiener Statsoper GmbH/Axel Zeininger

Jules Massenet: »Werther«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Ich gestehe Befangenheit: Werther ist mir eine Herzensangelegenheit. Und mit Frédéric Chaslin am Pult zumeist Quell der Freude. (An anderen Abenden: nicht immer.) Aber Werther... scheint mir bei dem gebürtigen Pariser in besten Händen. (Auch — oder vielmehr gerade — nach der Konsultation des Mitschnitts der Premièren-Serie.)

Bereits im Vorspiel weiß Chaslin das Orchester zu berührendem Spiel zu animieren. Das Finale des ersten Aktes, Werthers Szene zu Beginn des zweiten (nein, der zweite Akt insgesamt), der Transport der Emotionen im dritten Akt... Das sorgt im Verein mit den Damen und Herren im Graben immer wieder für »große Oper«; — im besten Sinn des Wortes.

II.
Der Bailli des Hans Peter Kammerer blieb blaß. Benedikt Kobel als Schmidt und Ayk Martirossian in der Rolle des Johann lieferten vor allem vokale Argumente, warum man ihre gemeinsame Szene am Beginn des zweiten Aktes bereits bei der Konzeption dieser Produktion strich. Brühlmanns »Klopstock!« ebenso wie Käthchens Antwort wurden erst später geopfert. (Am Altar des Repertoire-Betriebes.)

III.
Die Sophie der Maria Nazarova enttäuschte. Kaum eine Phrase schien da durchgestaltet, die Tongebung unausgewogen. Sophies große Szene »Du gai soleil plein de flamme« im zweiten Akt: versungen und vertan. Das Schluß-›a‹ erst zu tief, in der Wiederholung zu hoch. Forciert statt dolce, von diminuendo keine Spur... (Dies nur beispielhaft.) Am unteren Ende des Stimm­umfanges fehlt es Nazarovas Stimme an Volumen, vom ›g‹ aufwärts klingen die Töne gepreßt. Nicht frei. Gesangslinie will sich kaum eine bilden an diesem Abend. — Eine Studie der Beiläufigkeit. Desinteresse. (Das ist es.)

IV.
Clemens Unterreiner singt in dieser Serie erstmals die Partie des Albert im Haus am Ring. Betont im ersten Akt bereits den eifersüchtigen Zukünftigen, wo Musik und Text doch (noch) gemeinsames Glück verheißen. Selbst im zweiten Akt, als frisch Vermählter, gälte es, das Decorum zu wahren... Zumindest bis zum finalen »Il l’aime!« (»Sombre et considérant« — »finster und nachdenklich« — vermerkte Massenet in der Partitur.) Die Eifersucht: Sollte sie sich nicht erst im dritten Akt Bahn brechen?

Stimmlich bereitet die Partie des Albert Unterreiner keine Probleme. Sein angenehm timbrierter, gut geführter Bariton klingt warm. Unterreiners Wortdeutlichkeit ist vorbildlich. Doch, Kuriosum das: Die überdeutliche Artikulation irritiert. (Weniger wäre hier mehr. Viel mehr.) Hemmt die Phrase. Steht des Sängers Bemühen um die fein geführte Linie entgegen. Denn das Französische: Es muß fließen. Frei und scheinbar mühelos, wie die Seine an einem sonnigen Herbsttag die Île de la Cité umschmeichelt. Wenn solches gelänge...

V.
Dmitry Korchak begann seine große Szene im ersten Akt (»Je ne sais si je veile —  O nature, pleine de grâce«) überaus kraftvoll. Wollte zuviel... Da klang die Stimme angestrengt. (Weniger wäre mehr gewesen. Auch hier.) Doch bereits im Finale des ersten, spätestens jedoch in Werthers großer Szene zu Beginn des zweiten Aktes glaubte man Korchak den liebeskranken Dichter.

Höhepunkt (zweifellos): der dritte Akt. Da ging’s dahin, darstellerisch wie stimmlich. Auch wenn es vom dramaturgischen Standpunkt aus zu bedauern ist, daß das Publikum dem Tenor nach »Pourquoi me reveiller« (diesfalls verdienten) Beifall zollt. (Charlotte: — eher nicht.) Mit spar­samerem Einsatz der Mittel wäre hier noch mehr Effekt, größerer Erfolg zu gewinnen. Alles in allem aber bot Korchak bei seinem Wiener Rollen-Debut eine sehr gute Leistung.

VI.
Sophie Koch war (wieder einmal) Charlotte. Eine feine Sängerin. — Ist es wirklich schon soviele Monde her, seit sie zum ersten Mal Charlotte in Wien gab? Undenkbar, dies. Und doch: Kochs Stimme benötigt einige Zeit, um auf »Betriebstemperatur« zu kommen. (Dies zum Zeichen.) Nach eher verhaltenem Beginn wird das Duett mit Werther nach der Heimkehr vom Tanz zum ersten Höhepunkt des Abends.

Eigentlich — eigentlich beherrscht Charlotte den dritten Akt: alleingelassen in der Sehnsucht nach, der unterdrückten Liebe zu Werther. Aufgeschreckt durch Sophies kindliches Betragen, hin und hergerissen zwischen den verbotenen Gefühlen und den gesellschaftlichen Zwängen, welchen es zu genügen gilt...

All dies einem Publikum verständlich zu machen, bedarf es einer ersten Sängerin. Koch ist eine. Meisterhaft, wie sie ihre Gefühle vokal auszudrücken versteht, wie die Stimme (vor allem in der Mittellage) fließt. Ähnliches wird sich dann auch im vierten Akt begeben, bei Charlottes Zu­sam­menbruch an Werthers Lager. Beglückendes Schauspiel mit der Stimme.

VII.
Diese Vorstellung: ein bereichernder Abend.
So ist das eben mit den Herzensangelegenheiten...

109 ms