Georges Bizet: »Carmen«
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
Das beginnt schon in der Ouverture: Frédéric Chaslin hetzt das Orchester durch das einleitende Allegro giocoso, als befände sich die Schmugglerbande auf überstürzter Flucht vor dem spanischen Militär. (Ein Eindruck, welchen der auch stimmlich gemütliche Zuniga des Sorin Coliban später ins Reich der Chimäre verweisen wird. Mehr Hausmeister denn Offizier.) Die Leichtigkeit Südspaniens, das Flirren der Luft … sie fehlen. Drängen den Abend in die Einsilbigkeit. Lieblos. (Das ist es.)
Die Orchester-Soli bestätigen diesen Eindruck; — seien es nun Flöte oder Cello. Das Escamillos Lied paraphrasierende Cello-Solo im dritten Akt … klingt so behäbig, daß man Angst haben muß, der Toréador habe bereits gegen den ersten Stier das Nachsehen. Man vermißt die Sehnigkeit und Leichtigkeit (nicht nur) in der Escamillo zugedachten Musik; — jene Eigenschaften also, welche dem Toréador das Überleben in der Arena sichern. (Und ihn für Carmen erst interessant machen).
Chaslin läßt die Musik nicht atmen, hetzt auch durch das Schmuggler-Quintett, doch eigentlich ein Juwel der Partitur. Läßt vielfach zu laut spielen. Das mag gewiß Eindruck hinterlassen im Parkett und auf den Rängen — Bizets Schaffen wird es nicht gerecht.
Auch der Staatsopernchor scheint noch nicht ganz heimgekehrt zu sein aus der Sommerfrische: Einige Einsätze klangen verschleppt, manche Chorpassagen beiläufig. Man stellte sich auf die Bühne und sang. Von jener Geschäftigkeit, welche die Chorbewegungen anläßlich der Première auszeichnete — als beispielsweise die Zigarettenarbeiterinnen über den Platz flanierten, Blicke und Anzüglichkeiten ausgetauscht wurden —, war nichts zu bemerken. Doch sollte Repertoire-Pflege nicht auch diese Elemente umfassen, nicht nur die Reparatur von Bühnenbild, Kostümen und einer restaurierten »Einleuchtung« der Szene?
III.
Die Micaëla der Anita Hartig klingt für unsere, seit Jahren an zu kleine Stimmen gewöhnte Ohren überaus dramatisch. Hartigs Organ eignet jener »Kern«, jene Tragfähigkeit, welche für eigentlich für alle Stimmen unerläßlich ist. Die Rumänin weiß zu phrasieren, und ihre Stimme spricht über den gesamten Umfang gleichmäßig an. Ein Einwand: Muß ich mich sorgen, daß Hartigs Stimme in der oberen Lage relativ stark vibriert? — Im Duett mit dem Don José des Marcelo Álvarez im ersten Akt hinterläßt Hartig jedenfalls den nachhaltigeren Eindruck.
IV.
An der Leistung von Marcelo Álvarez werden sich die Geister scheiden: Die einen werden die Virilität und den Kern seiner Stimme würdigen, die anderen anmerken, daß der gebürtige Argentinier einzig in »La fleur que tu m’avais jetée« zu jener stimmlichen Form, zu jener Kantilene findet, um derentwillen man gekommen war. Daß Álvarez die Spitzentöne, so er sie nicht im piano und mit Kopfstimme sang, vornehmlich unter hörbarem Krafteinsatz erreichte.
Sei es, wie es sei: Ich hatte mir — vor allem geschuldet dem Umstand, daß sich Álvarez in ähnlicher Verfassung im Juli als Manrico in Paris ansagen hatte lassen — mehr erwartet.
V.
Erwin Schrott präsentierte sich dem Wiener Publikum erstmals als Escamillo. Und hatte als Überraschung seine eigene Version der Partie im Gepäck; — nicht nur, aber auch, was »Toréador, en garde« betraf. Legato geführter Linie hat Schrott längst abgeschworen. Aber: Darf man Bizet fast ohne Phrasierung singen? Darf ein Escamillo sich in nasales Französisch flüchten, wenn das tiefe Register ansprechen soll?
Auf schauspielerisch vermochte Schrott die Überlegenheit, welche Don Josés Gegenspieler im Wissen um Carmens Liebe auszeichnet, kaum erfahrbar zu machen. Escamillo ist nicht der Draufgänger, als den ihn Schrott präsentiert. Man denke an des Toréador Vorstoß im zweiten Akt: Halb im Scherz, halb im Ernst wirbt er um Carmens Gunst. Oder an die Gewißheit, welche Escamillo nach dem Duell mit Don José in den Bergen versprüht. Diese Großzügigkeit des Gewinners — erfuhr man nur aus dem Text.
VI.
Für die Titelpartie hatte die Staatsoper Clémentine Margaine engagiert. Die Französin hinterließ bei ihrem Haus-Debut keinen ungünstigen Eindruck. Margaine, deren Kalender bis Mai 2019 ausschließlich Engagements als Carmen listet, erfreute mit kraftvoller Stimme — und den in unseren Tagen als gottgegeben hingenommenen Defiziten im tiefen Register und beim legato. Auch mit der Phrasierung — etwa in der Auftrittsarie »L’amour est un oiseau rebelle« — und den Vortragszeichen nimmt Margaine es nicht genau. Doch: Ebenda gälte es, mit stimmlichen Mitteln mehr Effekt zu machen.
Schauspielerisch präsentiert sich Margaine als eine Carmen unserer Tage: Sie ist nicht in der Lage, sich auf der Bühne in knöchel- oder bodenlangen Röcken zu bewegen, ohne diese bei jedem Schritt raffen zu müssen. Wie soll da neben der durchaus verbesserungswürdigen musikalischen Gestaltung die schauspielerische überzeugen?
Die Lustigkeit des jungen, stolzen Zigeunermädels, dessen Spontaneität, scheint Margaines Wesen fremd. (Dies übrigens der große Unterschied zwischen Meilhacs und Halévys Carmen und jener Prosper Merimées.) Wenn Carmen sich im zweiten Akt mit gespreizten Beinen rücklings auf den Tisch legt, wird die Liebe zu Don José auf den Beischlaf reduziert. Das mag man in manchen Inszenierungen so vorsehen, wird der vielfältigen Persönlichkeit der Figur, wie sie Bizet uns in seiner Musik schildert, jedoch nicht gerecht. Entzaubert sie. Und war so von Zeffirelli niemals vorgesehen. (Man konsultiere die DVD der Premièren-Serie.)
VII.
Diese Carmen-Vorstellung: ein Repertoire-Abend mit stimmlichen Mängeln. Das oft gebrauchte und nicht beweisbare Argument, Besseres sei derzeit für Geld nicht zu bekommen: Es ist mir kein Trost.