Großes Festspielhaus, Salzburg (Detail). © Thomas Prochazka

Großes Festspielhaus, Salzburg (Detail).

© Thomas Prochazka

Gedanken zu… »Cavalleria rusticana« (Milano, 1940)

Von Thomas Prochazka

Nach der Besprechung der Cavalleria rusticana unter der Leitung von Pietro Mascagni gab es Reaktionen aus der Leserschaft.
Es folgen die zu Papier gebrachten Gedanken einer seit Jahrzehnten international tätigen Opersängerin — wir wollen sie »Alma« nennen — nach dem Anhören der auf YouTube verfügbaren Schallplatteneinspielung:

Diese Aufnahme der Cavalleria rusticana ist wirklich ein Osterschatz. Danke. Sie läßt uns ahnen, wie toll die Aufnahmesitzungen waren. (Ich brauche unbedingt neue Lautsprecher. Diese Laptop-Lautsprecher sind ein Jammer.)

Gänsehaut kann man nicht theoretisch erklären. Ich bekomme sie, wenn mich die Musik berührt. (Auf der Haut, sozusagen.)

Ich kenne die Cavalleria rusticana ziemlich gut. Die Musik ist ja nicht so kompliziert, und natürlich hat man zu den Stücken, in denen man selbst mitgewirkt hat, auch eine andere Einstellung. Andere Erinnerungen. Doch dann gibt es die Stellen, die einen immer erschaudern lassen. In der Cavalleria rusticana sind es die dunklen Takte am Schluß, bevor die Dorfweiber schreien, daß Turiddu tot ist.

Wie eine Sonnenfinsternis. Ich habe als Kind eine erlebt. Ich ging auf die Straße, um zu sehen, wie die Sonne verschwindet. Diese Dunkelheit war eine andere als die Finsternis der Nacht. Die Nacht ist auf eine Art immer hell. Hell und durchsichtig. Da aber war das Licht erloschen, und ich hatte das Gefühl, daß die Straße von einer feuchten, kalten Decke umhüllt wurde. Unangenehm. So empfinde ich den Schluß der Cavalleria rusticana

Sie erwähnten die langsamen Tempi. Ich denke, daß dieser Wahn nach »schneller« und »brillanter« in der Gesangskunst viel Übel angerichtet hat. Das Wort ist verlorengegangen, die Farben der Sprache (Ausdruck!), genaue Intonation (harmonische Intonation, nicht temperierte!), Natürlichkeit und — die Stärke der Stimmen.

Wie klar hört man in dieser Aufnahme die instrumentalen Soli! Vor allem das Holz (Klarinette, Oboe, Flöte), aber auch die anderen Instrumente. Die Phrasen enden immer so, wie man sie benötigt, um weiterzuatmen. Sei es als Solist am Instrument, als Sänger oder als Gruppe. Tempo rubato in seiner reinsten Form. (Wo man die Verzögerung kaum bemerkt. Eher spürt.)

Pietro Mascagni · »Cavalleria rusticana« · Lina Bruna Rasa · Benjamino Gigli · Giulietta Simionato · Maria Marucci · Gino Bechi · Coro e Orchestra del Teatro alla Scala, Milano · Pietro Mascagni · Seraphim IS 6008

Pietro Mascagni
»Cavalleria rusticana«
Lina Bruna Rasa · Benjamino Gigli · Giulietta Simionato · Maria Marucci · Gino Bechi
Coro e Orchestra del Teatro alla Scala, Milano
Pietro Mascagni
Seraphim IS 6008

Tempo rubato ist schwierig zu musizieren. Ich glaube, das Problem liegt im Wollen. Wenn man versucht, es den Musikern aufzuzwingen, funktioniert es nicht. Man muß sie überzeugen, daß sie mitschwingen. Die Alten konnten das. Pietro Mascagni auf jeden Fall. Aber auch ein Rudolf Bibl konnte es.

Wie süß die Streicher schleifen! Ein Gruppen-portamento … fiuuu … ist schon etwas Feines!

Witzig: Der Sohn ist um 20 Jahre älter als die Frau Mama. Tja… Aber er klingt wie ein junger Mann. Stimmlich. — Wann werden die Besetzungsdirektoren endlich begreifen, daß es auf »Stimmtyp-Casting« ankommt und nicht darauf, wie man aussieht? Oder welches Geburtsdatum im Paß steht?

Haben Sie bemerkt, wie »cool« die Rezitative sind!?!?! Im Grunde gibt es im Stück keine Secco-Rezitative, aber: Die Sänger deklamieren auch im accompagnato ziemlich frei. Wie toll das doch ist! Stellen Sie sich soetwas heutzutage vor! Den Dirigenten würde der Schlag treffen, wenn man nicht exakt der Skizze folgt, wie geschrieben.

Ich finde den Chor wunderbar. Er buchstabiert nicht, wie so oft heutzutage. Offenbar hat man früher auch die Chorsänger als vollwertige und vertrauensvolle Musiker angesehen. Und es bestand kein Bedarf, sie wie dumme Kinder zu behandeln! (Meine Erfahrung: elendslange Wiederholungen mit der Klopferei, anstatt eine synchrone Linie zu fördern). Das fortissimo-Chor-tutti: klangliches Gold!

Ui, dieser Alfio singt toll! Im »m-ta, m-ta«-Rhythmus (ab [23:45]), wo es viele »zerlegt«, hält er die Zügel der Pferde in ruhiger und sicherer Hand. Aber am schönsten finde ich seine rezitativischen Einwürfe. Wenn er Verdacht schöpft, wenn seine Wut entbrennt … große Oper!

Außerdem: Die Regieheinies von heute könnten einmal ein Gebet nur als Gebet singen lassen (ab [27:25]). Als eine Bitte an Gott — und kein tiefenpsychologisches, rebellisches… was auch immer. (Sie wissen schon, was ich meine.) Wie schön diese Nummer ist. Zwei Schichten überlagern sich: die betende Masse in der Kirche und das Gebet der verzweifelten Santa. Einfach und großartig.

Auch der Text ist sehr gut verständlich. Bei allen. (Nur den sizilianischen Dialekt habe ich verschwitzt.)

Haben Sie bemerkt, wie der Meister am Pult »Verismo« versteht? Verismo ist hier nicht die sinnlose Geräuschproduktion mit der Stimme. Im Gegenteil, alle Affekte/Effekte, die komponiert sind, werden gesungen! Mit großer Raffinesse. Geschrien werden nur geschriebene Texte. Also die Dialoge am Schluß. Aber auch sie werden sul fiato, also theatralisch, gesprochen. Tja…

Ich habe es nie verstanden und nie nachempfinden können, was so toll sein soll an diesem anämischen, modernen Gesäusel. Wie wunderbar sind da die scheppernden Lautsprecher, die von den Obertönen krachen. Yeah!!! Die Duette zwischen Sopran und Tenor: ein Hammer! Der Kampf zwischen Santuzza und Turiddu: »Va! nell’ira tua…« (ab [54:21]), etc. Das ist das Schauspiel in der Gesangskunst!

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