Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Die Oper — Kritische Zeit für eine Kunstform? (I)

Von Thomas Prochazka

Conrad L. Osborne ist in Europa wohl nur wenigen ein Begriff: den Lesern der Magazine Opera News, High Fidelity (eingestellt im Juli 1989) und der Londoner Financial Times, für welche der New Yorker neben mehr als 45 Jahren Tätigkeit als Gesangslehrer und Sänger jahrzehntelang Kritiken schrieb. In seinem Blog Osborne on Opera konstatiert er, daß die Kunstform Oper kritische Zeiten durchlaufe:

»Die erste Komponente ist jene der Kreativität: Es gibt nicht genügend neue Werke, welche sich mit den Meisterwerken des klassischen Repertoires messen können. Dies ist schon für lange Zeit der Fall gewesen. Die zweite Komponente ist die interpretative: Die zuvor genannten Meisterwerke werden inadäquat präsentiert, oftmals bis zu einem Punkt, an welchem sie unerkenntlich werden, und vermögen so nicht ihre Magie gegenüber dem Publikum auszuüben.«

Und, weiter: »Kritiker richten größeren Schaden an durch falsches Lob oder Indifferenz, durch träges Gewährenlassen, als mit wohlüberlegtem Tadel.«

Wir ahnten es wohl, allein…

II.
Michael Volpe, General Director des Holland Opera Park-Festivals, veröffentlichte in seinem Blog unter dem Titel »Das Publikum wird über die Zukunft der Oper entscheiden« Gedanken betreffend die Herausforderung, die in seiner Verantwortung stehenden Sommerfestspiele unweit Londons so gut wie möglich zu verkaufen. Volpe äußert sich darüber, daß ein Teil des Publikum die szenischen Bocksprünge der Regisseure nicht mehr mitzumachen gewillt ist, die britische Opernszene jedoch auf diese Besucher nicht verzichten könne. Und er zitiert Kaspar Holten, den ehemaligen künstlerischen Leiter des Royal Opera House, den die Reaktion des Publikums auf eine offen zur Schau gestellte Vergewaltigungsszene in Rossinis Guillaume Tell (Regisseur: Damiano Michieletto) am linken Fuß erwischt hatte: »Ich bot die unterschiedlichsten Produktionen an, aber ein Haus wie das Royal Opera House hat die Pflicht, die Kunstform auszu­reizen und Regisseuren zu erlauben, Ideen auszuprobieren, welche nicht immer populär sind. […] Eine Sache, die mir im Vereinigten Königreich auffiel, ist, daß es gegenüber der Idee eines ›Konzeptes‹ Widerstand zu geben scheint.«

Wirklich? Ist dies des Royal Opera House erste Pflicht? Und: Muß es uns beunruhigen, daß in Volpes Beitrag kein einziges Mal die Rede über Musik, Dirigenten oder Sänger geht?

III.
Decouvrierend auch die Berichterstattung von diversen Spielplan-Pressekonferenzen: Wichtig ist, so scheint’s, der Regisseur allein.

Tatjana Gürbaca, welche im Theater an der Wien grandios an Strauss’ Capriccio scheiterte, durfte, glaubt man Renate Wagner, zum Dank erst kürzlich ebendort eine Trilogie-Bearbeitung des Ring des Nibelungen in den Sand setzen. Aber: Der ORF zeichnete die Abende auf, die mediale Aufmerksamkeit ist damit sicher, einer DVD-Produktion steht nichts im Wege. Ziel erreicht?

Sven-Eric Bechtolf, der Schauspieler als Regisseur, bescherte der Wiener Staatsoper Insze­nierungen, welche keinem flüchtigen Blick in die jeweiligen Partituren standhalten. (Und deren Ersatz die Mittel der kommenden Direktion auf Jahre hinaus bände.) Für die Salzburger Festspiele bearbeitete Bechtolf sogar Hofmannsthals Erstfassung der Ariadne auf Naxos. Bechtolf! Bearbeitet! Hofmannsthal!

Jüngstes Beispiel: Peter Sellars und Teodor Currentzis’ »Verbesserung« von Mozarts La clemenza di Tito bei den diesjährigen Salzburger Festspielen… Angereichert(?) mit anderen Werken Mozarts anstelle der zu erwartenden, zugegebenermaßen mit Arbeit verbundenen Einstudierung und Wiedergabe der Rezitative. (Selbstverständlich befand man es nicht der Rede wert, in der Programmvorschau auf den Umstand der Bearbeitung hinzuweisen.) Außerdem war die Produktion gegen die Musik inszeniert, ignorierte also des Komponisten Intentionen. … Darf man Zweifel anmelden, daß die Feuilletonisten ebenso gejubelt hätten, wären die Kosten für Karte und Unterkunft aus den eigenen Geldbeuteln zu begleichen gewesen?

IV.
Christoph Loy, der für die szenische Umsetzung der Neuproduktion von Donizettis Maria Stuarda im Theater an der Wien (Première am 19. Jänner 2018) verantwortlich zeichnet, wird im Interview mit dem Magazin Die Bühne (Ausgabe Jänner 2018) wie folgt zitiert: »Es ist natürlich fatal zu denken, daß man das einfach ohne nachzudenken, ohne Striche, ohne eigene Bearbeitung nachspielen kann. […]« … Warum?

Also erstellte man (Wer? Christoph Loy? Dirigent Paolo Arrivabene?) eine eigene »Wiener Fassung« aus Donizettis Überarbeitung (mit dem Titel Buondelmonte) und der für Maria Malibran am Teatro alla Scala di Milano geschaffenen. … Wiederum: warum?

Warum zeigt man dem Publikum nicht Donizettis Erstfassung dieses fast aus den Spielplänen verschwundenen Werkes? Oder meinetwegen des Komponisten letztes Wort in dieser Ange­legenheit? Warum strebt man nicht nach einer partiturgetreuen, die damaligen Umstände und Gepflogenheiten einem heutigen Publikum verständlich machenden Umsetzung? Mit dem Ziel, in den Besuchern das Verlangen nach einer möglichst baldigen Wiederbegegnung mit diesem Werk zu pflanzen?

V.
Wozu überhaupt Bearbeitungen? Etwa — dies im allgemeinen —, weil jene über ausbedungene »munifiziente Gratifikationen« hinaus weitere Einnahmen aus Tantiemen in die eigene Tasche spülen? (Diesfalls aus der Kasse des Veranstalters bzw. durch die multimediale Vermarktung der oftmals »Event«-Charakter annehmenden Aufführungen.) Oder weil man mit dem eigentlichen Stoff nichts anzufangen, keine glaubhaften, ins Hier und Heute weisenden Figuren mehr zu erwecken vermag? Weil berufliches Unvermögen hindert, z.B. die Liebe einer Kurtisane im Paris des 19. Jahrhunderts — also doch einer sehr modernen, selbständigen Frau — zu einem Sproß aus »gutem Haus« für eine heutiges Publikum erfahrbar, fühlbar zu machen? Es ob der Umstände berührt zurückzulassen?

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…

VI.
»Oper ist eine musikalische Kunstform, keine theatralische«, meinte Thomas Hampson einmal. Gibt es nicht zu denken, daß ein Piotr Beczała, ein Tomasz Koniencny sich in Publikums­diskussionen glücklich zeigen über realistische Inszenierungen wie jene Dresdner des Lohengrin von Christine Mielitz? Daß einer der Gründe für Elisabeth Kulmans Rückzug von der Opernbühne Probenzeiten von bis zu sechs Wochen für eine Neuproduktion war? Ach, richtig: Die Damen und Herren des Feuilletons glänzen bei derartigen Veranstaltungen in der Regel durch Abwesenheit…

VII.
Es scheint an der Zeit, der Musik, dem Gesang wieder das Primat einzuräumen gegenüber den szenischen Dummheiten und schlecht gearbeiteten Produktionen, welche sich in den letzten Jahrzehnten seuchengleich auf unseren Bühnen ausbreiteten. Daß Kritiker nach bestem Wissen Gelungenes loben, Mängel — nicht Fehler! — benennen. (Und trotzdem nicht die Lebenden mit den Toten erschlagen.)

Letzteres Ansinnen: fast eine Unmöglichkeit. Musikstudenten wird man bedeuten, sie mögen an ihre Zukunft denken, Kritikern: an ihre Stellungen, Ausübenden: an ihre Engagements. So bleiben nur jene, welche vom System nichts zu fürchten haben: — engagierte Dilettanten (im besten Sinne des Wortes) oder Leute wie beispielsweise Ileana Cotrubas (»Die manipulierte Oper«, 137 Seiten, broschiert, Verlag Der Apfel, 2017) oder Conrad L. Osborne.

Wir sollten über ihre Botschaften nachdenken.

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