» Don Carlo «, 2. Akt: Eve-Maud Hubeaux (La Principessa d'Eboli) und das Ensemble in der von Kirill Serebrennikov szenisch verantworteten Produktion © Frol Podlesnyi

» Don Carlo «, 2. Akt: Eve-Maud Hubeaux (La Principessa d'Eboli) und das Ensemble in der von Kirill Serebrennikov szenisch verantworteten Produktion

© Frol Podlesnyi

Giuseppe Verdi:
» Don Carlo «

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Bitte folgen Sie mir in die Wiener Staatsoper. Dort scheitert man gerade zum dritten Mal in Folge an einer der italienischen Fassungen von Don Carlo. Diesmal allerdings total.

II.
Verläßt der geneigte Opernfreund das Haus nach der Vorstellung, hat er zwar nicht Don Carlo gesehen, dafür jedoch einiges über historische Kostüme aus Spanien am Beginn der Neuzeit gelernt. Die auf deren Herstellung verwandte Kunstfertigkeit, die Verarbeitung, die Stickereien und die Details: sie begeistern.

Allerdings handelt Don Carlo nicht von der Herstellung, der musealen Verwaltung und Zurschaustellung prachtvoller Kostüme aus dem 16. Jahrhundert. Und auch nicht von der Befreiung der Spanischen Niederlande von den Habsburgern, mag dies auch so im Opernführer einer ORF-Moderatorin stehen. Sondern — wie von Conrad L. Osborne als großes Thema des E-19, des » erweiterten 19. Jahrhunderts « der Operngeschichte, bezeichnet — vom aussichtslosen Kampf eines gesellschaftlichen Außenseiters (Don Carlo) um die Hand und Liebe einer adeligen, unerreichbaren Frau (Elisabetta di Valois) im Widerstreit mit der Gesellschaft (Filippo II) und ihren Normen (Il Grande Inquisitore). Verdi war immer an den Figuren und ihren Beweggründen interessiert, niemals an der Umgebung. Auch das historische Umfeld war ihm weniger wichtig, solange die Geschichte für die Bühne geeignete Dramatik und Szenen versprach.

III.
Diesmal war — im Gegensatz zu den vorhergegangenen Unternehmungen — das Scheitern allerdings ein totales: szenisch wie musikalisch.

Kirill Serebrennikov durfte nicht, wie bei seinem untauglichen Versuch über Parsifal, auf die Gnade eines durch eine Pandemie leeren, nur mit ausgewählten direktorialen Freunden bestückten Hauses zählen. Seine Idee der Verlegung der Handlung von Don Carlo in eine museumskonservatorische Abteilung unserer Tage überlebt nicht einmal die Eröffnungsszene. Ausgenommen, man findet nichts besonderes daran, daß ein Mitarbeiter der Abteilung (bei Verdi: Un frate) auftritt und im Präparationssaal Ich erstrebte die Herrschaft auf Erden und vergaß, daß ein Größerer uns führt, der vom Himmel die Sterne regiert etc. singt …

Wieder einmal stehen Musik und Text den ganzen Abend hindurch im Widerspruch zur im Libretto festgelegten Handlung. Doch das Libretto auf die Bühne zu bringen wäre die Aufgabe; — nicht eine etwa abweichende historische Wirklichkeit, nicht eine gegebenenfalls existierende literarische Vorlage, nicht irgendeine selbst erdachte Geschichte. Dieser Spielvogt scheitert auf der ganzen Linie.

» Don Carlo «, 3. Akt: Eve-Maud Hubeaux (La Principessa d'Eboli) und Roberto Tagliavini (Filippo II) © Frol Podlesnyi

» Don Carlo «, 3. Akt: Eve-Maud Hubeaux (La Principessa d'Eboli) und Roberto Tagliavini (Filippo II)

© Frol Podlesnyi

IV.
Doch die Zeiten ändern sich: Selbst ein Premièren-Publikum will solches nicht mehr widerspruchslos hinnehmen. Nach massiven » Buh! «-Rufen am Ende des Autodafés scheint klar: Ein durchschlagender Erfolg wird diese Produktion nicht mehr.

Nach dem vorletzten Bild kapitulierte Philippe Jordan, der Musikdirektor des Hauses, vor den zahlreichen Mißfallensbekundungen aus dem Auditorium: Er stülpte ein weißes Taschentuch über den Dirigentenstab und wandte sich, diesen in die Höhe haltend, zum Publikum. Eine majestätischere Geste des Eingeständnisses kollektiven Versagens der Verantwortlichen läßt sich kaum denken.

V.
Denn auch um die musikalische Seite des Abends ist es schlecht bestellt: Zum ersten ignoriert die Wahl der Mailänder Fassung aus 1884 Verdis letztes Wort zu Don Carlo. Die Wiederherstellung des Fontainebleau-Aktes für Modena (1887) restauriert die Balance und notwendige Entwicklung des Dramas. Dieser Akt enthält einige Themen, deren Wiederkehr im Verlauf der Oper eine motivische Klammer, Ankerpunkte zum Beginn schafft. Entscheidet man sich, auf den Fontainebleau-Akt zu verzichten, erschwert man dem Publikum die musikalisch-thematische Orientierung. Generell ist anzumerken, daß sich der französische Text besser an Verdis Komposition schmiegt als die — schon allein aus Gründen der größeren, erzielbaren Einnahmen vorgenommene — italienischsprachige Fassung. Angesichts dieser Tatsachen und der Auswertung uns heute zugänglicher Quellen scheint Philippe Jordans Entscheidung für die Mailänder Fassung zumindest zweifelhaft.

VI.
Das Staatsopernorchester spielt sauber und akkurat. Es zieht sich — allerdings in genauer Beachtung der Jordan’schen Zeichengebung — als einziges mit Anstand aus dieser Affaire. Der Musikdirektor des Institutes agiert mit der ihm eigenen Präzision — ein gediegener, gebildeter Künstler; flammenlos. Das Ergebnis: eine seltsam von der Bühne entkoppelte Wiedergabe des Notentextes, fortgesetzte Unstimmigkeiten mit dem Staatsopernchor inklusive. Eine mehrere Sekunden währende Generalpause mitten in der großen Szene von Filippo II markiert den Höhepunkt szenisch-direktorialer Hybris: Wenn der Spielvogt Asmik Grigorian als Elisabetta über die Bühne paradieren läßt.

VII.
Gesanglich läßt sich der Abend zwischen » Nicht genügend « und einer » Nicht-Vorstellung « einordnen: Jeder tut, was in seiner Macht steht, doch keine Nummer zündet. Nichts will sich zueinander fügen; alles bleibt für sich, die einzelnen Musikstücke mäandern seltsam vor sich hin.

Allgemein ist die musikalische Qualität in der Oper daher heute wirklich schlecht

Asmik Grigorian

Ob und inwieweit die Aussagen von Asmik Grigorian in einem am Premièren-Tag im Kurier erschienenen Interview sowie daraus resultierende Irritationen im Haus damit zu tun haben, mag ein Geheimnis bleiben. Man darf allerdings davon ausgehen, daß der Staatsoperndirektor über Aussagen wie Allgemein ist die musikalische Qualität in der Oper daher heute wirklich schlecht.1 und Es wird an den Gesangsschulen viel weniger Bruststimme gelehrt als früher — obwohl die die Schönheit der Stimme viel natürlicher erklingen lässt. Die wahren Farben der Stimme liegen in der Bruststimme. Und es braucht diesen Ausdruck […] nicht erfreut gewesen sein dürfte.

Einmal mehr bleibt festzustellen, daß mit der Ausnahme von Ileana Tonca als Voce dal cielo kein Sänger den Anforderungen an seine Partie genügte, will eines nicht Stadttheater-Niveau zum gültigen Maßstab erheben. (Die Stadttheater mögen mir verzeihen.) Ich weiß, daß man solche Ansicht in einigen Zirkeln nicht nur nicht gerne liest, sondern sie in Bausch und Bogen verneint. Doch — und Frau Grigorians Worte bestärken mich in dieser Ansicht — scheint die Zeit gekommen, diese unangenehme Wahrheit auszusprechen, zu akzeptieren und endlich die Konsequenzen in Ausbildung und Aufführung daraus zu ziehen.

VIII.
Asmik Grigorians Stimme klang vom ersten Ton an belegt und heiser. Immer wieder hatte sie Mühe mit den Spitzentönen. Den ganzen Abend hindurch wollte sich keine durchgehende Linie einstellen. Von einer musikalischen Gestaltung oder gar dynamischer Differenzierung war bei dieser Interpretation der Elisabetta di Valois wenig zu hören. Dazu hatte ich von allem Anfang an das Gefühl, daß sich Frau Grigorian unwohl fühlte, als wisse sie um ihre Überforderung, um das Mißverhältnis zwischen den Anforderungen dieser Partie (die eine Renata Tebaldi sich weigerte, auf der Bühne zu singen, weil sie ihre Stimme beschädigen würde) und ihren stimmlichen Möglichkeiten.

Tu che le vanità am Ende des Abends und Lackmus-Test jeder Elisabetta, erklang ohne Agogik, ohne Phrasierung, ohne jede Abstufung, welche vorzubereiten und zu begleiten die Aufgabe des Dirigenten wäre. Kurzum, Frau Grigorian » überlebte « den Abend (wie schon die Lady Macbeth im Salzburger Festspielsommer 2023) — doch um welchen Preis? Ihr Instrument präsentierte sich in schwer angeschlagenem Zustand.

Vielleicht sollte, wer sich kritisch äußert, seine Gefühle nicht öffentlich machen: Doch gestehe ich, daß mich Mitleid erfaßte mit allen, die da löwenhaft einen vom ersten Aufgehen des Vorhanges nicht zu gewinnenden Kampf mit den ihnen zugemuteten Verhältnissen ausfochten.

IX.
Joshua Guerrero, als Don Carlo besetzt, teilte Frau Grigorians Schicksal. Angesichts seiner in Puccinis Il trittico und Manon Lescaut gezeigten Leistungen stand zu befürchten, was man im Ende auch zu hören bekam: ein über weite Strecken überfordertes Instrument, das sich nur jenseits des mezzo-forte als kontrollierbar erwies. Immer wieder hörte man ungedeckte, scharfe Spitzentöne. Von zumindest basaler gesanglicher Gestaltung war wenig zu bemerken, Krampf und — zugegeben: heroischer — Kampf um’s stimmliche Überleben prägten auch Herrn Guerrerros Tun.

» Don Carlo «, 4. Akt: Asmik Grigorian (Elisabetta di Valois) und Joshua Guerrero (Don Carlo) © Frol Podlesnyi

» Don Carlo «, 4. Akt: Asmik Grigorian (Elisabetta di Valois) und Joshua Guerrero (Don Carlo)

© Frol Podlesnyi

X.
Die Principessa d’Eboli der Eve-Maud Hubeaux ließ — wie schon die Schauspielerin Clairon in Salzburg — keine Zweifel aufkommen an ihrer unterentwickelten Bruststimme und dem daraus resultierenden Ungleichgewicht ihres Instrumentes. Anders als Frau Grigorians klang Frau Hubeaux’s Stimme zwar klarer, doch über dem passaggio eng. Wie schon in der französischen Fassung blieb die gebürtige Schweizerin wiederum schuldig, was eine Principessa d’Eboli auszeichnen sollte: stimmliche Virtuosität und Exaktheit in den Koloraturen des » Schleierliedes «, eine verführerisch klingende, gut in die Stimme integrierte untere Oktave, die notwendige Kraft für die Attacken in O don fatale. Was man hörte, war ein leichter Mezzosopran außerhalb des für seine Stimme geeigneten Habitats. Die Spuren gesanglicher Verwitterung waren nicht zu überhören.

XI.
Der Rodrigo, marchese di Posa, war Étienne Dupuis anvertraut worden. Herr Dupuis scheint, was derartige szenische Verirrungen betrifft, geeicht: Er entledigte sich der Aufgabe, vom Spielvogt als Agitator für bessere Arbeits- und Einkommmensbedingungen in der Textilindustrie ausersehen worden zu sein, mit bemerkenswertem Gleichmut. In seinem Kampf gegen die Bedingungen in der Textilindustrie (in den Niederlanden?) trägt er einen Kapuzenpullover — zwecks Legitimation des spielvogtischen Gedankens wohl aus heimischer Baumwolle gewonnen, von der bundeseigenen Kostümwerkstätte Art for Art geschneidert und selbstverständlich OEKO-TEX-zertifiziert … Daß die Stimme eines Verdi-Baritons größer sein, über eine reichere Farbpalette verfügen müßte (gespeist aus der Quelle einer vollends entwickelten unteren Stimmfamilie), als sie Herrn Dupuis’ in der Mittellage durchaus angenehm klingendem Bariton zur Disposition steht, gilt vielen als vernachlässigbar. Das Ergebnis sind kritisch gelobte, in Wahrheit jedoch stimmlich unerfüllte Abende.

XII.
In des Spielvogts surrealer Welt mutierte der spanische König Filippo II zum Chef der konservatorischen Abteilung des Museums in Yuste. Roberto Tagliavini trat folgerichtig auch nach Buchhalterart mit Aktenmappe in der Hand auf. Leider sang er auch so: Seinem Filippo II haftete nichts Majestätisches an. Zu leicht(gewichtig) klang Herrn Tagliavinis Baß, mochte er auch hin und wieder eine gesangliche Linie entwickeln. Es gab schöne Momente, doch erreichte sein Filippo II niemals stimmlich jenes Niveau, das man zurecht von einem Herrscher erwarten darf. Herr Tagliavini geizte mit den Stimmfarben. Was wunder, daß die Verzweiflung des Herrschers ebenso unglaubwürdig klang wie die Niedergeschlagenheit des ungeliebten Gatten?

Die Beschränkung der stimmlichen Mittel war bereits in der großen Szene mit dem Rodrigo nicht zu überhören. Sie erfuhr im Duett mit dem Grande Inquisitore — beim Spielvogt ein durchaus nicht blinder Institutsmitarbeiter, der, niemand weiß warum, seinen Chef in der Hand zu haben scheint — eine Steigerung und kulminierte in einer szenisch wohl einmaligen Hilflosigkeit eines Filippo II angesichts der sich wider ihn erhebenden spanischen Textilindustrie. (Sollten Sie sich jetzt noch aus- und in all diesem eine stringente Logik erkennen, haben Sie meine Bewunderung.) Ebenso wie der heroische Kampf aller Sänger gegen den vom ersten Takt an herauf dräuenden, unabwendbaren Untergang focht dieser Filippo II einen ob seiner wenigen stimmlichen Mittel letztlich uninteressanten und von vornherein verlorenen Krieg um die Vorherrschaft gegen die kirchlichen Mächte.

Seiner Überlegenheit dem König gegenüber zum Trotz überzeugte auch Dmitry Ulyanov als Grande Inquisitore nicht. Zu hell, in der Tiefe zu eng hörte sich sein Baß an; zuwenig vermochte er sich in der Szene mit Filippo II zu steigern, als daß man ihm seinen Sieg zumindest der Stimme wegen gönnte.

XIII.
Ilia Staple darf sich als Tebaldo von Frau Grigorians Worten durchaus mitgemeint fühlen; ebenso der Conte di Lerma/Un Aroldo des Hiroshi Amako. Die Stimmen der beiden sind, nehmt nur alles in allem, selbst für comprimario-Partien an der Wiener Staatsoper zu wenig entwickelt. Mit Ivo Stanchev debutierte ein Gast als Un frate; — einen eigenen Sänger für diese Partie haben wir offenbar nicht mehr im Ensemble.

XIV.
Das Ergebnis: ein rabenschwarzer Abend an einer einstmals zu den internationalen Spitzenhäusern zählenden Institution; auch, wenn ein ähnlicher Verlauf nach Bewertung aller Vorzeichen zu erwarten stand.

Die interesantere Frage allerdings lautet: Wie lange wollen Politik, Presse und Öffentlichkeit dem Niedergang des Hauses noch tatenlos zusehen?

  1. Ich bin ein Produkt des Regietheaters Interview mit Asmik Grigorian in der Tageszeitung Kurier vom 26. September 2024, S. 28. Anmerkung: Zumindest die Artikelüberschrift wurde zu einem päteren Zeitpunkt auf Asmik Grigorian: Wir haben wegen des Regietheaters an musikalischer Qualität verloren geändert. Mir liegt die Originalversion vom 26. September 2024, 05:01 Uhr, vor.

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