»La traviata«, 1. Akt: Pretty Yende als Violetta Valéry bei ihrem Rollen-Debut an der Wiener Staatsoper © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»La traviata«, 1. Akt: Pretty Yende als Violetta Valéry bei ihrem Rollen-Debut an der Wiener Staatsoper

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Giuseppe Verdi: »La traviata«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Nach der »Première vor Publikum« bleibe ich bei meiner vordem geäußerten Meinung: Des Spielvogt Simon Stone szenischer Zugang wird dem Werk nicht gerecht. Auch die musikalische Seite erfüllt nicht jene Erwartungen, die man im Haus am Ring an eine Aufführung von La traviata stellen dürfen muß.

II.
Keine Frage, Simon Stone will dafür gefeiert werden, daß er, was ihm Realität ist, ins Opern­haus übersiedelt. So war der Regisseur bereits 2019 mit Cherubinis Medée bei den Salzburger Festspielen verfahren: Hatte den Mythos aller Mystik entkleidet, sich mit einer Heimchen-Alternative zufriedengegeben; in Verkennung (oder Ignoranz?) von Medées Dasein als Werkzeug der Vorsehung.

Diesmal: Gegenteiliges. Die Kurtisane Violetta Valéry verwandelte Stone in eine Influencerin unseres Jahrzehnts. Mit 147 Millionen »Followern« in den Sozialen Netzwerken und eigener Parfum-Linie. Auch sonst bleibt von der Handlung, wie sie das Libretto (nicht Alexandre Dumas fils’ Werk!) zeichnet, wenig übrig. Giorgio Germont repräsentiere »das alte Geld, den Einfluß, die Macht«, ließ der Spielvogt in einem Artikel im Programmheft wissen. Wie wahr­scheinlich ist es, daß dieses »alte Geld« seine Töchter einer Vermählung wegen zum Islam konvertieren läßt? (Denn niemals könnte ein saudischer Prinz — wir sehen die Schlagzeilen auf Lauf­bändern eingeblendet — eine Ungläubige ehelichen.)

Unser Jahrzehnt … Wieso sollte Violetta, das reiche »Pariser It-Girl«, Alfredos Vater nicht unverrichteter Dinge wieder gehen lassen? Wieso bedarf eine junge, moderne, selbst­bewußte Frau im 21. Jahr­hundert dann doch einer männlichen Begleitung, um das Fest ihrer Freundin Flora zu besuchen? Wieso — Achtung, 21. Jahr­hundert! — kann Barone Douphol Violetta verbieten, das Wort an Alfredo zu richten (»Non un detto!«)?

Wie wahrscheinlich ist es, daß eine Influencerin dieses Kalibers, mit eigener Parfum-Linie, Land- und Stadthaus ihr gesamtes Vermögen in vier Monaten durchbringt? Jedes veröffentlichte Bild mit Alfredo erhält immerhin mehrere Millionen likes. Damit sollte sich doch Geld verdienen lassen.

Wir, das Publikum, werden solcherart — durchaus gekonnt gemacht — zu Zeugen, wie Violetta ihr Leben auf den beiden das Bühnenportal fast ganz füllenden Bildschirmen vor uns ausbreitet. Die Bildschirme stehen im Winkel von 90 Grad zueinander auf der sich die meiste Zeit bewegenden Drehbühne. Davor wandern die Sänger unablässig im Kreis. Die Rückseiten der Bildschirme begrenzen eine Spielfläche, in die Stone immer wieder einzelne Objekte stellt: unter anderem eine Miniatur des Denkmals der Jeanne d’Arc aus der rue de Rivoli, einen Traktor — Achtung, wir sind auf dem Land! —, eine Kapelle.

Warum steigt Violetta vor ihrer Arie in ein Automobil, um abzufahren, wo doch Alfredo singt, er werde jetzt gehen? Sollte sie so eine schlechte Gastgeberin sein, ihre eigene Party vor der Zeit zu verlassen? Singen nicht die Mitglieder des Chores, daß sie nun auf­brechen werden, da der Morgen naht: »Si ridesta in ciel l’aurora, e n’è forza di partire …«?

Warum teilt Violetta Giorgio Germont mit, sie sei ganz allein auf der Welt? (Vorher, in der großen Szene des 1. Aktes, bezeichnete sie sich als »allein« und »einsam« (»Sola, abbandonata …«). Wieso läßt sie der Spielvogt während der Ouverture — gespielt selbst­verständlich vor aufgezogenem Vorhang — Nachrichten an ihre Mutter senden? Nachrichten, die wir mitlesen können auf den riesengroßen Bildschirmen (verantwortlich: Robert Cousins). Mit jeder Minute des Abends werden die Widersprüche zwischen dem gesungenen Text und dem, was wir auf der Bühne zu sehen bekommen, größer. Ist das noch Piaves und Verdis La traviata?

Doch im Ende, wenn Stones Violetta an Krebs (nicht an Schwindsucht wie im Original) stirbt, kneift er. Da ist Schluß mit dem Realismus: die Hölle einer Chemotherapie zu zeigen, die Verzweiflung der Kranken, vollgepumpt mit Giften, die ihre Zellen töten; die Haare, die ihnen büschelweise ausfallen … — Nein, nein, da bleibt alles schön sauber und adrett: Man will ja nicht verstören. Bitte, nur keine Betroffenheit auf den Rängen. (Frank Castorf agierte da im Faust radikaler, als er Marguerites Verfall zeigte. Viel radikaler.)

S. Stone & Co. »überschreiben« die Handlungen der ihnen anvertrauten Werke mit ihren eigenen. Lenken unsere Aufmerksamkeit vom Ohr zum Auge, von den Personen zu den Konzepten; gleichgültig, ob es uns auffällt, gleichgültig, ob wir das wollen. Sie drängen die Musik, den Gesang in den Hintergrund, zugunsten des Bühnengeschehens. Wie im Kino.

Doch Oper ist nicht Kino. Oper ist Theater durch Gesang.

III.
Wie schon zwei Tage zuvor hinterließ Ludovic Tézier als Giorgio Germont den besten Ein­druck. Schon die erste Phrase ließ aufhorchen; machte den haushohen, stimmlichen Unterschied zu allen anderen hörbar: gute Linienführung, meist ebenmäßiger Ton und eine funktionierende Verbindung der beiden Stimmfamilien. Selbstverständlich wären — nicht nur in »Il provenza« — ein Mehr an stimmlicher Gestaltung, das Herausarbeiten (nicht: Ausstellen) der Höhepunkte denkbar, ja, wünschenswert.

Doch dazu hätte es größerer Agilität seitens Nicola Luisotti am Pult des Staats­opern­orchesters bedurft. Dem Mut zu tempi rubati. Doch unter Luisotti wackelte das Zusammenspiel im Orchester ein paar Mal gefährlich an diesem Abend. Spielten sich die tiefen Streicher, das Schlagwerk öfter in den Vordergrund, als es einem lieb sein konnte. Die Leichtigkeit und Brillanz, mit der ein Carlos Kleiber einst diese Partitur zum Leben zu er­wecken wußte; die zupackende Hand eines Riccardo Muti, die mit den Sängern mit­atmende Gestaltung eines Ettore Panizza: Sie wehen uns nur mehr leise an, uner­reich­bar … Hinabgesunkene Welten.

IV.
Frédéric Antoun agierte als Alfredo bei seinem Debut an der Wiener Staatsoper weniger glücklich: Sein Tenor präsentierte sich ohne Kern, bar einer durchgehenden Linienführung. Dazu gesellten sich Intonationsprobleme vor allem in der hohen Lage. Ab dem passaggio klang Antouns Stimme oft eng, gequetscht. Zittern um jeden Spitzenton in einer Partie, die den Tenor doch nur bis zum hohen ›a‹ führt. Sollte ein Alfredo selbst in der Aufregung eines Haus-Debuts nicht anders klingen?

V.
Simon Stone muß ein Zauberer sein in der Arbeit mit den Sängern: Beeindruckend, wie Pretty Yende die Violetta Valéry spielte. Wie die Gesten saßen, das Timing funktionierte. Faszinierend auch, wie einen das Geschehen auf den Bildschirmen gefangen nahm, die Aufmerksamkeit von der Musik zog. Kein Wunder, daß das Publikum applaudierte. Doch wem galt die Zustimmung? Der Sängerin? Oder vielmehr der Schauspielerin?

Denn gesanglich wären einige Einwände vorzubringen: Auch Yendes Stimme gebrach es an der Aktivierung des unteren Registers, fehlte der notwendige Support. Als Folge waren immer wieder Brüche der Gesangslinie zu bemerken, gesäuselte Phrasen statt aus­drucks­vollem piano. Hohe Noten wurden mit Fortdauer des Abends immer öfter durch über­mäßigen Einsatz von portamenti »angesteuert«; justiert. Verschliffene Koloraturen in der großen Szene des ersten Aktes zeigten die stimmlichen Grenzen auf. — Und nein, die Partie der Violetta erfordert keine drei Stimmen: Es reicht ein stimmtechnisch gut ausgebildeter lyrischer Sopran mit der Fähigkeit, große Teile der Partie leggero zu singen; — vor allem den dritten Akt.

VI.
Stones Spielleitung und Robert Cousins Bühne blenden; faszinieren: Doch sie berühren nicht. Aber sind es nicht gerade die Emotionen, die wir in der Oper suchen? Denn Oper ist Theater durch Gesang. Nicht Kino.

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