»Carmen«, 2. Akt: Martin Häßler (Moralès), Szilvia Vörös (Mercédès), Carmen Anita Rachvelishvili (Carmen), Slávka Zámecníková (Frasquita) und Peter Kellner (Zuniga) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Carmen«, 2. Akt: Martin Häßler (Moralès), Szilvia Vörös (Mercédès), Carmen Anita Rachvelishvili (Carmen), Slávka Zámecníková (Frasquita) und Peter Kellner (Zuniga)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Georges Bizet:
»Carmen« (Stream)

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

»Original (MET) oder Fälschung?« lautete eine der Anfragen an diesem Sonntag. Ich fürchte, Calixto Bieitos Sichtweise auf Carmen spiegelt die Wirklichkeit besser wieder, als uns lieb ist. Zeigt uns Gewalt. Lust. Und wieder Gewalt. Kurz, das Leben derer am unteren Ende der Gesellschaft. In kargen Bildern und ärmlich wirkenden Kostümen. Ist das noch Carmen?

II.
Ich fürchte: ja. Will das Publikum so etwas sehen? Wird man damit neue, jüngere Publikums­schichten für die Kunstform Oper begeistern können? (Ein erklärtes Ziel dieser Direktion.) Ich fürchte: nein. Zumindest nicht so oft wie Carmen in der Regel am Programmzettel steht.

Fast 22 Jahre ist sie alt, diese als »richtungsweisend« angepriesene und bereits rund um den Erdball gespielte Produktion. Nun wurde sie auch in Wien von Joan Anton Rechi szenisch studiert, ehe der Meister selbst anreiste.

Karg die von Alfons Flores verantwortete Bühne: mit einer Telefonzelle und einem Flaggen­mast im ersten Akt; einem alten, doch fahrtüchtigen Mercedes-Automobil als Ersatz für Lillas Pastias Schenke. Das »Schmugglerbild« des 3. Aktes bringt jede Menge Mercedes-Wagen auf die Bühne. Alle mit kaputten Rückwärtsgang allerdings, weshalb man sie nach dem Aktschluß von der Bühne schieben muß… Nachdem der Stier symbolisch durch das Umkippen und Zerlegen eines Aufstellers mit Stier-Umrissen getötet wurde, bildet eine hell ausgeleuchtete, mit Kalkmarkierungen abgegrenzte Arena den Ort des finalen Zusammen­treffens zwischen Carmen und Don José (Licht: Alberto Rodriguez Vega).

III.
Diese Inszenierung erzählt von der täglichen — und daher alltäglichen — Gewalt der an den Rand der Gesellschaft Gedrängten. Soldaten, die aus purer Zerstörungswut jene Telefonzelle demolieren, in welcher Carmen zuvor mit ihrem Liebsten telefonierte: Warum? Soldaten, die in kollektiver Lust an der Folter und Erniedrigung anderer eine Zigarettenarbeiterin an den Händen gefesselt am Flaggenmast in die Höhe ziehen.

Eine Mercédès, die einem Kind (ihrer Tochter?) Stöckelschuhe anziehen will, bevor es mit den anderen Schmugglern über die Grenze geht. Da kratzt Bieito nur knapp die Kurve, wenn er das Kind wieder aus den Schuhen schlüpfen und seine Puppe holen läßt. Ein abstoßendes Bild.

Zuniga, der, kaum in der nichtexistenten Schenke von Lillas Pastia angekommen, darangeht, seine Hosen fallen zu lassen. Remendado und Dancaïre, die Zuniga brutal zusammentreten, obwohl er sich nicht gegen seine zeitlich begrenzte Festsetzung wehrt. (Als Frasquita, Mercédès, Remendado und Dancaïre rollendeckend, aber leider nicht mehr: Slávka Zámecníková, Szilvia Vörös, Carlos Osuna und Michael Arivony.)

Wenn Carmen von »l’amour« und »oiseau rebelle« singt, meint sie Lust. Wenn Don José Carmens Liebe fordert: Meint er nicht Unterwerfung, Macht und Lust, getrieben von gekränktem Stolz und Egoismus?

Wenn Micaëla Don José Nachricht (und Geld) von seiner Mutter bringt, ihn im Schmuggler­lager an der Grenze aufspürt, meint sie Liebe. Sie wird die einzige bleiben an diesem Abend.

»Carmen«, 3. Akt: Erwin Schrott als Escamillo in einem hervorragenden Photo von Michael Pöhn © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Carmen«, 3. Akt: Erwin Schrott als Escamillo in einem hervorragenden Photo von Michael Pöhn

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

IV.
Ist das noch die Carmen von Prosper Merimée? Oder jene von Henri Meilhac, Ludovic Halévy und George Bizet? Oder nur mehr noch Calixto Bieitos Paraphrase darüber? Der Mann muß Entsetzliches gesehen bzw. erlebt haben. Doch ist solches für uns wichtig zum Verständnis der Oper? Bedarf es dieser Brutalität in der Darstellung, um ein Publikum wachzurütteln? Will ein Publikum so etwas überhaupt sehen, abgekämpft vom Tagewerk? Vielleicht sogar mehrmals? Oder interessiert uns vor allem die E-19-Konstellation1 des Außenseiters (Carmen), die in die heile Welt Don Josés einbricht, seine (mögliche) Beziehung mit Micaëla zerstört? Oder stellen am Ende gar Bizets Musik, die Sänger den Antrieb für den Besuch der Oper dar?

Bieito zeigt uns Carmen — und doch wieder nicht. Die nur als gedachter Ort existierende Schenke führt dazu, daß der Zuniga des Peter Kellner die hintere Tür des Mercedes öffnen, einsteigen und auf der anderen Seite wieder aussteigen muß, um seinem Text — sich Zutritt zur Schenke zu verschaffen — gerecht zu werden. Im Finale des Aktes darf der Chor unbe­weglich im Hintergrund stehen. Kellner machte seine Sache gut, ebenso Martin Häßler als Micaëla bedrängender Moralès im ersten Akt. Daß nicht klar wird, ob es sich um den Hof der Hauptwache oder den Platz davor handelt, ist nicht seine Schuld. Bei erster Annahme ist die Telefonzelle fehl am Platz, bei zweiter fehlt das vorüberziehende Volk: Nichts ist es mit »sur le place chacun passe, chacun vient, chacun va…«

Das Schmugglerlager in den Bergen: Es ist selbst für ein Mädchen wie Micaëla bequem zu Fuß zu erreichen. Unerkannt, im Gegensatz zu Escamillo, den Don José bei seiner An­näherung entdeckt. Wir lernen: Die örtlichen Behörden nehmen an diesen Schmugglern keinen Anstoß. Nicht einmal als nebenberufliche Korruptionisten.

Selbstverständlich begibt sich Bieito auch der Arena im vierten Akt: keine Orangen, kein Wasser, keinen Wein und keine Fächer. Entweder gibt es nichts zu verkaufen, oder es gibt keine Abnehmer. Das Volk — der Chor — steht an der Rampe, die »quadrille des toréros« reitet durch’s Staatsopernrund. Rechi und Bieito gelingt es allerdings im Verein mit dem Dirigenten, Andrés Orozco-Estrada, die gemischten Chöre gehörig in Schwung zu bringen. Im Ende bewegen sich alle im Gleichklang, fast wird der Text skandiert. So muß es zugehen in den Arenen Südspaniens, gleichgültig, ob Stierkampf oder Fußball am Programm steht. Ein starker, ein gefährlicher Eindruck.

V.
Für Anita Rachvelishvili bedeutete ihr Wiener Rollen-Debut eine Wiederbegegnung mit Bieitos Sichtweise auf Carmen. Stimmlich bestätigte Rachvelishvili jenen Eindruck, den ich anläßlich des Don Carlo in der Opéra Bastille von ihr gewann: Diese Carmen verfügt über eine profunde, voluminöse Tiefe. Leider setzt sie sie viel zu selten ein; macht im passaggio und der Mittellage kaum Gebrauch davon. In der Folge klingen die Höhen angestrengt und unruhig (z.B. die hohen ›fis‹ in »L’amour est un oiseau rebelle«), manchmal eng. Man höre, mit welcher Stärke Rachvelishvili die Seguedilla singt, im zweiten Akt Don José (vorgeblich) wegschickt. Beeindruckend. Da klingt nichts angestrengt oder mühevoll. Hierauf zu bauen, sich mit dieser Stärke die Mittellage — und die Höhen — zu erobern: Das wär’s.

»Ah! Je t’aime Escamillo«, singt Carmen im vierten Akt. Diesmal glaubte ich ihr. Denn der Escamillo des Erwin Schrott stellte etwas dar. (Man sehe sich das Meisterbild Michael Pöhns an.) Die Partie liegt für viele Sänger unangenehm: für einen Baß relativ hoch, für einen Bariton zumeist zu tief. Schrott umschifft die Klippen, auch wenn Orozco-Estrada »Votre toast« langsamer als gewohnt nahm. Fast gravitätisch. Der Gesamteindruck dieses Escamillo, der sich von Akt zu Akt steigerte, machte stimmliche Defizite wett: den mitunter nasalen Klang (ich weiß, das Französische), das Nachdrücken bei manchen tiefen Tönen, manch flach klingende Phrase. Ich behielt diesen Escamillo in guter Erinnerung. Vielleicht, weil er bei jedem Auftritt die Herrschaft über die Bühne gewann? Weil er stolz, doch weniger präpotent auftrat als Kollegen in anderen Inszenierungen?

»Carmen«, 3. Akt: Vera-Lotte Boecker (Micaëla) und Piotr Bezcala (Don José) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Carmen«, 3. Akt: Vera-Lotte Boecker (Micaëla) und Piotr Bezcala (Don José)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

VI.
Direktor Roščić gelang es, Piotr Beczała kurzfristig als Don José zu gewinnen. Beczała ist zweifellos einer der ganz Großen, die heute die Bühnen bevölkern. Seine Meisterschaft zeigt sich, wenn er, anders als seine jungen Kollegen, nicht dauernd den Blick zum Souffleurkasten wendet, sondern sich auf sein Können, sein Wissen, seine Routine verläßt. Bieitos und Beczałas Don José ist ein rechter Hitzkopf. Aus Micaëlas Armen treibt es ihn schnur­stracks in jene Carmens. »La fleur que tu m’avais jetée« klang fast zärtlich. — Aufmerksamen Zuhörern wird allerdings nicht entgangen sein, daß die Spitzentöne (zu) hell, ein wenig abgesetzt klangen. Gegen Ende des Abends stimmliche Ermüdungs­erscheinungen zu verzeichnen waren. Trotzdem: ein spannendes Finale. Obwohl, Calixto Bieito hin, »richtungsweisend« her, Männer im allgemeinen am Inhalt der Handtaschen ihrer Frauen oder Freundinnen kein Interesse zeigen…

Doch Don José wird geliebt: Micaëla ist bei Bieito ein Mädchen aus gutem Haus. Erz­katholisch, mit Kreuz um den Hals und Kruzifix in der Handtasche. Der heiße Süden Iberiens läßt grüßen. Aber wie es eben so geht bei den Katholiken: Unter der Decke lodert das Feuer. Lichterloh. Spannend schon das erste Zusammentreffen von Micaëla und Don José, im Spiel ebenso wie im Gesang. Vera-Lotte Boecker war mir die Überraschung des Abends. Abgesehen von den stimmlichen Mängeln, welche heute fast alle Soprane wie ein Banner vor sich her tragen, machte Boecker ihre Sache sehr, sehr gut: die Verzweiflung, sich aus Moralès Umklammerung zu befreien, die Initiative im Duett mit Don José, die Arie im dritten Akt mit vielen schön gesungenen Phrasen. Und, endlich, die eindeutige Geste gegen Carmen, ehe diese Micaëla mit Don José ans Lager seiner sterbenden Mutter eilte. Das klang um einiges besser als die Fusako in Das verratene Meer. Wie überzeugend, als Boecker von Don Josés Mutter und deren Botschaft an ihn sang.

VII.
Der Haus-Debutant stand diesmal am Pult: Andrés Orozco-Estrada paßte sich Bieitos Interpretation an; mit starken, manchmal martialischen Akzenten, langsamen Tempi. Kein italienisch anmutendes Wirbeln; keine federnde Lesart wie bei der Première der Vorgänger­produktion. Kleine Wackler im Zusammenspiel mit den Schmugglern ausge­nommen, hörte sich das gut an, machte die Tempodramaturgie — vor allem im Verein mit dieser Spielleitung — durchaus Sinn. (Nicht zu reden von den vielen kleinen Fehlern, die in jeder Vorstellung passieren und zumeist nur die Betroffenen und die Umsitzenden hören. Daß das Violoncello in der Solo-Stelle des dritten Aktes rauh klang, ist nicht dem Dirigenten anzulasten.)

VIII.
Musikalisch wird man derzeit kaum eine bessere Besetzung finden, auch wenn für jene, die Oper als musikalische Kunstform begreifen, einige Wünsche offenbleiben. Daß Calixto Bieitos Sichtweise auf Carmen dem Haus in den nächsten zehn oder 20 Jahren, vor allem, wenn schlechtere Sänger am Besetzungszettel stehen werden, ausverkaufte Abende bescheren wird, darf allerdings bezweifelt werden.

  1. Conrad L. Osborne belegt in seinem Buch »Opera as Opera. The State of the Art« das erweiterte 19. Jahrhundert, also die Zeitspanne von Mozart bis Richard Strauss, mit dem Begriff »E-19«.

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