Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Vom Singen, oder:
Was wir von Plácido Domingo lernen können

Von Thomas Prochazka

Nach dem Stream der Nabucco-Aufführung aus der Wiener Staatsoper im Jänner 2021 drehten sich die Diskussionen fast ausschließlich um Plácido Domingo, den Sänger der Titelpartie. Geradeso, als gäbe es in dieser Oper nicht auch noch vier andere, bemerkenswerte Gesangspartien.

II.
Einige von Plácido Domingos »Fans« empfinden jede negative Kritik an ihrem Idol als Majestätsbeleidigung. (Nicht umsonst wurzelt das Wort »Fan« im englischen fanatic, Fanatiker.) Doch wie ich bereits anläßlich der Vorstellungen des Simon Boccanegra im September 2020 feststellte, ist Plácido Domingo nicht das Problem. Er ist das Reagenz.

Opernfreunden, deren Zeitrechnung nicht erst 1980 beginnt, werden nicht leugnen, daß die Stimmen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs deutlich und kontinuierlich an Kaliber einbüßten. Conrad L. Osborne notierte bereits 1968 die Gleichung 1 Domingo = ⅔ Corelli.1 Sänge Domingo heute wie zu seinen besten Tenorzeiten, die Gleichung lautete wohl: 1 Tenor unserer Tage = ⅔ Domingo.

Warum ist das so? Viele Fachleute sehen eine Ursache darin im verstärkten Einsatz von Mikrophonen, dem Aufkommen der Studioaufnahmen und den immer ausgefeilteren Schnitt­möglichkeiten. Das galt nicht für die akustischen und die ersten elektrischen Aufnahmen (ab ca. 1925). In der Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Aufnahme­bedin­gungen so herausfordernd, daß man froh war über jeden Schalldruck, der es bis auf die Matrize schaffte. Möglichkeiten für nachträgliche Korrekturen gab es nicht. Entweder gelang die Aufnahme, oder man mußte sie wiederholen.

In den 1960-er Jahren begründeten die Weiterentwicklung der Aufnahmetechik und die vielfältiger werdenden Editiermöglichkeiten das »Crooning«: jenen körperlosen Klang, der (mit wenigen Ausnahmen) seit Jahrzehnten auf unseren Opernbühnen und in der klassischen Gesangsausbildung en vogue ist. In der Folge wurden die wichtigsten Eigenschaften einer gut geführten Opernstimme — legato, portamento und die Beherrschung der Stimme im passaggio (dem Registerwechsel) — rar auf unseren Opernbühnen. Hochgehalten nur von einigen wenigen Vertretern der Spezies »Opernsänger«.

III.
Intermezzo. Nochmals Nabucco. Bei den folgenden Tonbeispielen handelt sich um einen kurzen Ausschnitt aus Abigailles Duett mit Nabucco aus »La profezia«, dem 3. Teil: »Egro giacevi…«. Die Namen der Sängerinnen tun nichts zur Sache. Hier und heute geht es um den richtigen Einsatz der unteren Stimmfamilie; deren ausgewogene Einbettung in eine Sopranstimme.

Giuseppe Verdi: »Nabucco«. Abigailles »Egro giacevi…« aus dem dritten Teil (dem Duett mit Nabucco)

Giuseppe Verdi: »Nabucco«. Abigailles »Egro giacevi…« aus dem dritten Teil (dem Duett mit Nabucco)

Hören Sie sich die Beispiele ein paar Mal in Ruhe an. Vergleichen Sie. Versuchen Sie herauszufinden, was Ihnen an welchen Beispielen gefällt und was nicht. Notieren Sie, welche Ihrer Meinung nach technisch richtig gesungen sind. Und warum. (Die Auflösung folgt unten.)

Der Beginn von »Egro giacevi…« aus Giuseppe Verdis Nabucco zum Hörvergleich für den fehlenden und den korrekten Gebrauch der unteren Stimmfamilie (der »Bruststimme«).

IV.
Als Folge des zum idealtypischen Stil erhobenen Gesanges unserer Tage bevölkern viele technisch unzureichend ausgebildete Sänger die Opernbühnen. Mit Stimmen, deren Klang keinen Körper mehr aufweist, die nur mehr selten einen Tonumfang von 2½ Oktaven ebenmäßig im Klang zu überstreichen vermögen. Und, wie Piotr Bezcala einmal (durchaus generalisierend) feststellte, ausgebildet von Professoren, die mit einer Professur an einer Musikhochschule den unbefriedigenden Verlauf der eigenen Karriere wettzumachen versuchen: »In der Ausbildungsphase sind Leute gelandet, die in der Musikwelt gescheitert sind: Sänger, die — aus den verschiedensten Gründen — keine Karriere gemacht haben.«

Bezcalas offene Worte führten zu Widerspruch aus der Leserschaft. Im weiteren Verlauf der Diskussionen kristallisierte sich allerdings heraus, daß der Tenor so unrecht nicht haben dürfte. »Die Ausbildung in den Hochschulen im Bereich ›Gesangs­technische Ausbildung‹ ist nicht ausreichend. Meine Studierenden haben mit mir pro Woche nur zwei Stunden Gesangs­unterricht«, meldete sich ein Sänger und Unterrichtender. Von Josef Metternich weiß man, daß er in seiner Lehrzeit 3 – 5 Jahre lang fast täglich mit seinem Lehrer studierte.

Im (unausgesprochenen) Wissen darum, daß an den Hochschulen viel zu viele Musiker (Sänger wie Instrumentalisten) ausgebildet werden, unterrichtet man auch Musikgeschichte, Musiktheorie, Marketing und Harmonielehre. Anstatt sich auf das Wesentliche zu kon­zentrieren: die Gesangsausbildung bzw. das Instrument. Die Folge: jede Menge diplomierter und jedenfalls schlechter ausgebildeter Sänger als in früheren Zeiten, als noch der Gesang im Mittelpunkt stand. Eine Renata Tebaldi, ein Carlo Bergonzi zählten bereits mit 25 bzw. 28 Jahren zu den gefragtesten Sängern ihrer Zeit.2

William Crutchfield veröffentlichte auf seiner Website teatronuovo.org Aufnahmen von Sängern aus der Anfangszeit der Plattenaufnahmen. Unter anderem diskutiert er auch Einspielungen z.B. von Jussi Björling und anderen Sängern in ihren Teenager-Jahren. Man höre und staune.

V.
Die eigentliche Gesangsausbildung erfolgt also zu spät und in viel zu geringem Ausmaß. Es verwundert daher nicht, daß heutzutage die meisten Opernstimmen keinen Kern, kein Zentrum mehr besitzen. Warum solche Sänger trotzdem engagiert werden? Weil die meisten Intendanten nichts mehr von Stimmen verstehen. Weil Agenturen mit gutaussehenden jungen Menschen schnelles Geld verdienen wollen. Weil einzelne Sänger bevorzugt und andere, bessere, aus verschiedensten Gründen, darunter Diskriminierung, aus dem Markt gedrängt werden. Weil Besetzungen anhand von Photos oder (bearbeiteten?) Videos anstelle nach Vorsingen oder, besser, selbst besuchten Vorstellungen erstellt werden (von anderen »Gefälligkeiten« zu schweigen).3 Und weil ein Publikum vorgefaßte Meinungen übernimmt, anstatt diese prüfend zu wägen und sich selbst kundig zu machen.

VI.
Das Problem für die Sänger: »Crooning« ist schön. Per se. Aber: »Crooning« im klassischen Gesang tötet die Stimme. Klassische Musik ist zu anspruchsvoll, um sie flach und »nett« singen zu können. Zumindest über einen längeren Zeitraum. Der Opernalltag der letzten Jahrzehnte hat bewiesen, daß auch Mikrophone nicht viel helfen, wenn die Stimmen keinen Sitz haben. Jeder, der »drückt«, wird früher oder später die Stimme verlieren.

Was immer wieder vergessen wird: Operngesang ist eine olympische Disziplin. Kein Spaziergang. Der Beruf des Opernsängers erfordert über Jahrzehnte hinweg Hingabe und harte Arbeit. Tag für Tag. Technisch richtiges, gutes Singen ist körperlich anstrengend und, bis man’s gelernt hat, manchmal auch schmerzhaft. Die Meinung eines Sängers dazu: »Wenn Opernsänger olympische Sieger werden wollen, müssen sie (wieder) lernen, den ›Schmerz‹ des Trainings auszuhalten. Mit locker, locker, weich, samtig, etc. kann man keine Olympischen Spiele gewinnen.«

VII.
Die Basis allen Tuns ist und bleibt die untere Stimm­familie, umgangs­sprachlich auch »Brust­stimme« genannt. Sie deckt vorwiegend den Frequenzbereich unterhalb des passaggio ab. Das passaggio, der Übergang von der »Bruststimme« zur »Kopfstimme«, liegt übrigens für alle Stimmgattungen im Bereich von ›e‹ bis ›fis‹. Im Bereich der »Bruststimme« ist auch die menschliche Sprech­stimme angesiedelt. Der Grund ist einfach: In diesem Frequenz­bereich entwickelt die Stimme ihre größte Kraft.

Die »Bruststimme« bringt, richtig ausgebildet, einen komprimierten Ton hervor. Ihr Einsatz ist daher nicht nur für die tiefen Töne erforderlich. Will man, etwa als Sopran oder Tenor, ein hohes ›c3‹ bzw. ›c2‹ stark und laut singen, muß ein Anteil des Tons komprimiert sein. Nur mit »heißer Luft« oder hübschem Kopfton kann man nicht singen.

Ziel der alten Meister war es daher, beim Singen möglichst viel von dieser Kraft, diesem komprimierten Ton, im mittleren und oberen Bereich der Stimme zu erhalten. Für einen richtigen, einen sonoren »Opernklang« braucht es einen dunklen, aber keinen durch einen zu tief abgesenkten Kehlkopf abgedunkelten Ton. Ein Opernsänger muß also den Anteil der Komprimierung laufend variieren.

Auf Grund der Physionomie des menschlichen Körpers nehmen jedoch die Anteile der »Bruststimme« ab dem passaggio ab. Dennoch dürfen sie nicht gänzlich fehlen. Andernfalls entsteht jener moderne Kopfton, der flach und zu wenig mit dem Körper (dem Abdomen) verbunden ist. Dieser Ton klingt dunkel, ohne es zu sein. Resonanzlos. Doch gefällt er vielen, nicht nur im Publikum.

Für den Fachmann klingen solche Töne hohl und porös. Die Luft fließt nicht richtig, weil sie — zumeist mit verengtem Kehlkopf — zurückgehalten wird. Die Folge: Die stete Überbeanspruchung (nicht nur) der Kehl­kopf­muskulatur führt — unter anderem — zu unruhiger Tongebung (»wobble«) und zum vorzeitigen Stimmverschleiß.

VIII.
Ein Übel unserer Tage ist, daß unsere Ohren von Aufnahmen korrumpiert sind. Eine Opern­stimme ist jedoch der Klang der Aufnahme plus der Vorstellungs­kraft, wie sie im Zuschauer­raum klingt.

In der ersten Oktave müssen die Töne einen Kern (»core«) besitzen, sonst hört man sie nicht. Singt man nur mit dem Kopfton, werden die Oktavsprünge unhörbar. Sie klingen im besten Fall schön poliert, aber hohl. Und sie durchdringen den Klang des Orchesters nicht. Es geht darum, sich wieder auf das Kräftige, Rohe — ja, auch »Unschöne«, wenn man so will — einzulassen. Und auf die Klarheit, die Schlichtheit, die das zweite Gesangsbeispiel bietet. Was in der Nähe roh klingt, verwandelt sich im Opernhaus zu jenem auf natürliche Art erzielten, dramatischen Klang, der nicht in den Orchesterwogen untergeht.

IX.
Zurück zu unseren Gesangsbeispielen: Die Stimme der ersten Sängerin klingt flach; resonanz­los. Die Bruststimme ist unterentwickelt, die (tiefen) Sopran-›f‹ (»grida all’Ebreo«) und -›es‹ (»[po]re il regal sug[gello]«) werden künstlich abgedunkelt. Die Sängerin hat Probleme, über dem doch eher klein dimensionierten Orchester in einem Opernhaus hörbar zu bleiben. (Vom fehlenden legato ganz zu schweigen.)

Die Stimme der zweiten Sängerin ist die funktional beste: Die untere Stimmfamilie ist sehr gut entwickelt und klingt bereits in der ersten Phrase »Egro giacevi…« mit. Die Sängerin bleibt auch in der tiefen Lage ausgezeichnet hörbar. Allerdings ist die Artikulation »knackig«, sehr »vertikal« (dem Bemühen um größtmögliche Textverständlichkeit geschuldet) und eher kurz. Fast ein wenig »ängstlich« in der Linienführung, als scheute die Sängerin länger gehaltene Töne.

Die dritte Sängerin besticht durch eine hörbare Bindung der einzelnen Noten. Als schlage man diese am Klavier mit gehaltenem Pedal an. Der »Easy Plush« der 1960-er Jahre. Doch wir erinnern uns: Legato ist nicht allein die Verbindung mehrere Töne, sondern erfordert auch die Aufrechterhaltung eines gleichmäßigen Stimmdrucks über die gesamte Phrase hinweg; — unter Beibehaltung der Artikulation. Nach mehrmaligem Hören wird man daher zum Schluß kommen, daß auch die dritte Stimme zu leicht, zu »luftig« klingt; die Bruststimme stärker eingesetzt werden sollte.

Bei allen drei Aufnahmen handelt es sich übrigens um Live-Mittschnitte. Dennoch scheinen mir die erwähnten Defizite wie Fertigkeiten struktureller Natur und nicht den jeweiligen Abendverfassungen geschuldet zu sein.

X.
Womit wir wieder bei Plácido Domingo wären: Ohne die entsprechende Stimmtechnik, eine über Jahrzehnte geübte Disziplin und ohne richtiges Training wäre eine Karriere wie die seine nicht möglich gewesen. In jenen Phrasen, in welchen uns Domingo im fort­ge­schrittenen Alter immer noch besser klingt als seine jungen Kollegen, hören wir das Ergebnis einer sehr guten Ausbildung, Stimmbildung, -technik — und jahrzehntelanger, harter Arbeit. Leider laufen viele Gesangslehrer einem Klangideal hinterher, anstatt den Mechanismus der Tonproduktion, der eine Stimme individuell entwickelt und erst besonders macht, zu ver­mitteln und zu fördern.

Doch wen interessiert ein zweiter Plácido Domingo?

  1. »In the fall of 1968, I attended a performance of Adriana Lecouvreur, with Franco Corelli as Mau­rizio. Less than two weeks later I returned for Plácido Domingo’s met debut in the same part. Having seen Domingo in several roles with the New York City opera, I was sure the de­but would be successful, and so it was: smooth, warm singing with a fine glow, and quite suff­icient resonance for the house. Still, here was a comparison of the two-Mazeppas sort—same role, same hall, same sets, same orchestra and conductor, all heard from the same seats and only a few days apart—and I was left with this equation: 1 Domingo = ⅔ Corelli.«
    Conrad L. Osborne: »Opera as Opera. The State of the Art«; Proposito Press, 2018, ISBN 9780999436608; S. 324.)
  2. Tebaldi debutierte mit 21 Jahren, Bergonzi mit 22 (als Bariton) bzw. 25 (als Tenor); Bastianini mit 22 (als Baß) und 28 (als Bariton); Siepi mit 18 Jahren. Alle wurden innerhalb von drei bis vier Jahren internationale Stars; und klangen unverwechselbar wie Tebaldi, Bergonzi, Bastianini und Siepi. (Zitiert nach Osborne, S. 356.)
  3. »Großen Anteil haben die Besetzungsmachenschaften von Leuten, die von Stimmen über­haupt nichts mehr verstehen. Und die eben nur mehr nach Äußerlichkeiten gehen und ty­pen­mäßig besetzen.«
    Brigitte Fassbaender in: »Oper — das knallharte Geschäft.« Ein Film von Stefan Braunshausen. ZDF/3sat, Juni 2019

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