»Carmen«, 2. Akt: Michèle Losier bei ihrem Wiener Rollen-Debut als Carmen in der Inszenierung von Calixto Bieito und dem Bühnenbild von Alfons Flores © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Carmen«, 2. Akt: Michèle Losier bei ihrem Wiener Rollen-Debut als Carmen in der Inszenierung von Calixto Bieito und dem Bühnenbild von Alfons Flores

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

George Bizet: »Carmen«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Diese »Première vor Publikum« (wie auf den Plakaten zu lesen stand) wäre noch von der Vorgängergeneration von Opernfreunden mit einem Buh-Orkan von der Bühne geweht worden. Gestern: freundlicher Applaus, auch vom Stehplatz. Für Mittelmäßiges.
Wir leben in erstaunlichen Zeiten.

II.
Calixto Bieitos Sichtweise auf Carmen wirkt in der Totalen des Hauses noch kompromißloser. Die Mißhandlung Zunigas durch Fußtritte und das wiederholte Zuschlagen von Autotüren, Dancaïres Wasserabschlagen auf den leblos am Boden Liegenden; Alkohol und Sex aller­orten: Bieito vergibt wenig Möglichkeiten, uns an die täglichen Greuel zu erinnern. Versperrt die Flucht aus dem Alltag. (Ich schrieb dies bereits.)

Im dritten Akt wieder die Szene, in der die Mercédès der Szilvia Vörös dem Mädchen Strümpfe und Stöckelschuhe anzieht, Frasquita es schminkt. Man merkt die Absicht. Wenn Calixto Bieito und sein Ermöglicher, Bogdan Roščić, verstören und abstoßen wollen: Sie haben ihr Ziel erreicht. Sollte es — wider Erwarten — auch darum gehen, möglichst viel Publikum anzuziehen (was nur gelingen kann, wenn Stammpublikum sich Produktionen öfter ansieht), scheint mir das Ziel verfehlt.

Einiges von Bieitos Umsetzung findet sich auch in Prosper Merimées Novelle; — aus der Sicht seiner Zeit, selbstverständlich. Doch Carmen, die Oper, ist nicht Carmen, die Novelle. Henri Meilhac und Ludovic Halévy schufen für Bizet ein Libretto. Allein dieses, nicht Merimées Text, hätte als Grundlage zu dienen. Ein Mißverständnis, das durch fortgesetzte Wiederholung nicht kleiner wird.

III.
Andrés Orozco-Estrada, fast ein Haus-Debutant am Pult, beginnt den Abend wuchtig; hart. Bewahrt sich eine gewisse Inflexibilität bis ins Finale, mögen da die Harfe und die Flöte im Vorspiel zum dritten Akt noch so innig konzertieren. Manches klingt starr, vieles unelastisch. Angesichts dieser Dirigentenleistung verbietet sich ein Blick ins Archiv, will eines sich nicht unglücklich machen.

Die Folge von Orozco-Estradas wenig segensreichem Wirken sind immer wieder ver­schleppte Einsätze — vor allem des Staatsopernchors — und unterschiedliche Ansichten von Bühne und Graben betreffend die gewählten Tempi. So weit auseinander wie in »Votre Toast« dürften Sänger und Orchester eigentlich nie sein…

Verwunderlich: Der Chor im vierten Akt, der im Stream und von vorne gefilmt so wuchtig, so präsent erschien: Im Haus und von oben gesehen zerfällt die Szene. Geht ihrer Bewegungs­energie verlustig.

Was die Dynamik betrifft, vermag Orozco-Estrada nicht umzusetzen, wovon er im Programm­heft schrieb: Die rasche Zurücknahme des Orchesters ins piano funktioniert selten. Und wäre doch von essentieller Bedeutung, um den Abend musikalisch zu formen. So »g’frettet« man sich gemeinsam durch, wie’s in Wien heißt. »Premièren vor Publikum« müßten anders klingen.

IV.
Carlos Osuna ist ein ebenso unscheinbarer Remendado wie Ileana Tonca und Szilvia Vörös Frasquita und Mercédès. Vor allem Vörös scheint sich musikalisch nicht weiterzuentwickeln, das Brustregister resoniert nicht wie erforderlich. Das ist schade, denn ihre ersten Abende — etwa als Anna an der Seite von Joyce DiDonatos Didon — berechtigten zu Hoffnungen. Auch Clemens Unterreiner als Dancaïre geizt mit Wohllaut. Sein Bariton klingt hart. Es ist Unterreiners Bühnenpräsenz, nicht seine stimmliche Darbietung, die keinen Zweifel daran läßt, wer der Herr der Schmuggler ist.

Der Moralès des Martin Häßler fällt vor allem durch von der Kunst des legato freien Gesang auf; nachgedrückte tiefe Töne inklusive. Daß er sich am hellen Tag und vor seiner Mannschaft (bzw. im Original auf einem belebten Platz) Micaëla unsittlich nähern darf, entspringt dem herrschenden Verständnis von Regietheater: Mit dem, worum es in Carmen geht, hat es nichts zu tun. Ähnlich agiert Peter Kellner als Zuniga. Auch er ist musikalisch ein Rauhbein, löst nicht ein, was seine Stimme in Graz noch versprach.

»Carmen«, 1. Akt: Michèle Losier (Carmen) und Dmytro Popov (Don José) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Carmen«, 1. Akt: Michèle Losier (Carmen) und Dmytro Popov (Don José)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

V.
Und die Hauptpartien? Zu mehr als einer durchschnittlichen Darbietung reichen — bei allem, durchaus erkennbaren Bemühen — die stimmlichen Mittel der Beteiligten leider nicht. Doch ist das für eine »Première vor Publikum« nicht ein bißchen wenig?

Erwin Schrott hinterläßt als Escamillo noch den besten Eindruck. Präsentiert die tragfähigste Stimme des Abends. Sein Escamillo zehrt auch dann von der Bühnenpräsenz, wenn er Phrasen gegen das Orchester singt, die rubati entgleiten und das legato Pause macht. Daß er so manchen Ton eher »ungefähr« trifft, wird ihm ein Teil des weiblichen Publikums sicher verzeihen. Denn Schrott zählt trotzdem zur »Habenseite« der Aufführung: Wann immer er auf der Bühne steht, gewinnt das Drama an Fahrt; wird interessant. Dennoch will sich der günstige Eindruck vom Stream nicht einstellen.

VI.
Ähnlich liegt der Fall der Micaëla. Vera-Lotte Boecker bemüht sich um die Bürgerliche unter Roma und Soldaten. Doch auch sie vermag nicht an jene Leistung, wie ich sie vom Stream in Erinnerung habe, anzuschließen. Boeckers Stimme klingt schon im ersten Akt überanstrengt. Sie singt oft wortundeutlich, der Übergang zwischen den beiden Stimmfamilien ist schwer erkennbar. Schrille, instabile Spitzentöne und in manchen Lagen wenig Stimmvolumen weisen auf technische Mängel hin. Darüber sollte der freundliche Applaus nach Micaëlas Arie im dritten Akt nicht hinwegtrösten. Wer nur ein wenig von Operngesang versteht, doch zuzu­hören weiß, wird diesen Eindruck nicht leugnen.

VII.
Dmytro Popov war erstmals Don José im Haus am Ring. Popov weiß die Spitzentöne in die Phrasen einzubinden, sie klingen nicht so hell und abgesetzt wie bei seinem Rollen­vorgänger. Der Eindruck nach »La fleur que tu m’avais jetée«: ein durchaus günstiger. An gesangstechnischem Raffinement bleibt dieser Don José freilich einiges schuldig: legato ist auch bei ihm Mangelware. Popov ist eine verläßliche Besetzung für Repertoire-Abende. Für eine Première an einem Haus, das als erstes gelten will, mangelt es an der gesanglichen grandezza.

VIII.
Und Carmen? Michèle Losier spielt sie bei ihrem Rollen-Debut am Haus nach Kräften. Müht, bemüht sich; nicht nur in den Arien, die leidlich gelingen. Dennoch überzeugt Losier nicht. Warum? Mit Fortdauer des Abends schwinden dieser Carmen die stimmlichen Kräfte. Wird die Stimme gefordert (wie in den schnellen Passagen des zweiten Aktes), versiegt das Volumen. Oftmals bricht die Gesangslinie, verrät das vielen Mezzosopranen eigene »Gurren« den unsteten Stimmsitz. Doch auch Losiers Darstellung ist uneinheitlich: Wo doch Carmen im dritten Akt (»Carreau ! Pique ! … La mort !«) das Wissen um das Unvermeidliche aus den Karten liest, klingt ihr »Laisse-moi passer« im vierten zu zaghaft; ängstlich. Carmen ist — diesfalls auch bei Merimée — die Unbeugsame. Die Außenseiterin. Nicht so Losier. Doch was soll uns eine Carmen ohne Carmen?

IX.
Mittelmäßiges.
Wer wird sich solches im Repertoire zu den verlangten Preisen ansehen?

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