Ruggero Leoncavallo: »Zazà«
Theater an der Wien
Von Thomas Prochazka
II.
Ruggero Leoncavallo komponierte Zazà auf sein eigenes, unter Mitarbeit von Carlo Zangarini erstelltes Libretto nach dem Schauspiel von Pierre Breton und Charles Simon. Die Uraufführung fand am 10. November 1900 im Teatro Lirico in Milano statt. Arturo Toscanini dirigierte eine Besetzung, die selbst angesichts des Sängerreichtums jener Zeit als erste gelten mußte: Edoardo Gabin war Milio Dufresne, Mario Sammarco Cascart, Clorinda Pini Corsi Zazàs Mutter Anaide, und Rosina Storchio sang Zazà. Storchio wird vier Jahre später Puccinis erste Cio-cio-san sein. Die damalige Ausbildung erlaubte es den Sängern, ein viel breiter gefächertes Repertoire abzudecken, als wir es heute gewohnt sind.
Zazà galt als großer Erfolg. Die Oper wurde auch an der Metropolitan Opera gegeben. Auf der Bühne standen damals die Größten ihrer Zeit, darunter Emma Carelli, Clara Petrella, Giovanni Martinelli, Benjamino Gigli, Mario del Monaco, Tito Ruffa. Späterhin immerhin noch, zumindest in Ausschnitten: Monserrat Caballé, Mario del Monaco, Tito Gobbi. Und zurecht: Wer die Qualität von Leoncavallos Oper mit jener der medial groß aufgemachten Uraufführungen der letzten Jahre (vor allem in Salzburg und Wien, aber auch anderswo) vergleicht, wird nicht umhinkönnen festzustellen: Zazà schlägt, nicht nur was die musikalische Substanz betrifft, die melodielosen Kopfgeburten unserer Tage um Längen.
III.
Im Theater an der Wien gibt man Leoncavallos Zweitfassung aus dem Jahr 1919, mit Einsprengseln aus der ersten Fassung.
Aber die Größten der letzten 50 Jahre, die Größten unserer Zeit: Sie interessieren sich nicht mehr für Zazà. Das hörte man: Sowohl Stefan Soltész am Pult es ORF Radio-Symphonieorchester Wien als auch die Sängerriege vermochten es nicht, das Potential des Werkes auszuschöpfen. Am besten schlug sich Christopher Maltman als Cascart, Sänger im Varieté in Saint-Étienne und Freund Zazàs. Sein Bariton trägt die Narben jahrelanger Überbeanspruchung. Maltman faszinierte, berührte dennoch, nicht nur in der bekannten Arie »Zazà, piccola zingara“ aus dem vierten Akt.
Soltész gebricht es mitunter an der Fähigkeit, die Musik atmen zu lassen; ihr Zeit zu geben. Gewiß, Leoncavallo träumte von der durchkomponierten Oper. Dennoch eignet seiner Musik nach den ariosen Teilen immer ein Moment der Ruhe, wenn eine Stimme verklingt, sich die andere auf demselben Ton zu Wort meldet. Ob wir hier die nicht komponierten Fermaten vermissen, die uns Zeit zum Atmen gönnen, ehe das Drama seinen Lauf nimmt?
IV.
Der Milio Dufresne von Nikolai Schukoff hörte sich in der Höhe angestrengt an (wie‘s denn so üblich geworden ist in unseren Tagen). »O mio piccolo tavolo«, Milios Arie aus dem dritten Akt, hätte durchaus mehr vokalen Glanz vertragen, musikalisch besser gearbeitet sein dürfen. Dennoch ließ einen dieser Milio Dufresne nicht kalt. Nicht in der Liebe zu Zazà noch im Bangen um seinen guten Ruf in der Pariser Gesellschaft als Ehemann und Vater. Einem Ruf, der ihm interessanter Weise nicht so wichtig schien, als es galt, sich mit Zazà einzu-, sich von ihr erobern zu lassen. Auch hier: Schukoff und Christof Loy stellten einen Menschen auf die Bühne, keine Schablone. (Das war unerwartet.)
V.
Als Zazà mit ihrer Kammerzofe Natalia (stimmlich überraschend frisch: Juliette Mars) nach Paris fährt, um sich mit der vermeintlichen Rivalin auseinanderzusetzen, treffen sie auf Toto, Milios Tochter. Zangarini und Leoncavallo waren klug genug, Toto als Sprechrolle zu gestalten. Vittoria Antonuzzo, 11, Mitglied im Kinderchor des Maggio Musicale Fiorentino, gab denn auch allen, die zuhören wollten, eine Lehrstunde in Italienisch. Danach intonierte sie rollengerecht Luigi Cherubinis Ave Maria am Klavier. (Ein weiteres Gustostückerl Leoncavallos: Toto im Hintergrund spielen zu lassen, während Zazà ihre Arie »Mamma? Io non l‘ho avuta mai« singt.)
Ach, wie lebhaft steht uns doch ein Kind vor Augen, ein Wesen aus Fleisch und Blut! Wie sehr fühlen wir mit Toto; ihrem Kummer darüber, ihren Vater Milio lange Monate nicht gesehen zu haben. Milio Dufresne, der sich in Saint-Étienne mit seiner Geliebten Zazà vergnügte…
VI.
Zazà… Wir verachten ihre Launen. Wir sind hingerissen von ihrem Charme. Wir sehen ihre Zerbrechlichkeit. Wir wissen um das Ende, bevor sie es selbst ahnt: Christof Loy und Svetlana Aksenova schufen mit ihrer Interpretation der Zazà ein Geschöpf aus Herz und Blut. Ließen uns teilhaben an der Zerrissenheit einer Künstlernatur, die mit ihrer Mutter Anaide (für heutige Verhältnisse solide: Enkelejda Shkosa) im andauernden Kampf steht, die Wunden ihrer Kindheit klaffend. Aksenovas gesangliche Stärke ist eine solide untere Stimmfamilie und die Mittellage. Wüßte diese Zazà ihre Stimme auf Linie zu führen: Wieviel wäre damit gewonnen! So bleiben immerhin schöne, berührende Momente: Zazàs Arie, die Duette mit Cascart und Milio Dufresne; die abschließende, die Entscheidung bringende Auseinandersetzung.
VII.
Der Abend ruht auf der Drehbühne des Raimund Orfeo Voigt, den Kostümen von Reinhard Traub. Und dem Licht Thomas Wilhelms, der uns mit zwei »Verfolgern« aus der Hinterwelt des Varietés auf dessen Bühne zwingt. Uns teilhaben läßt am Duett zwischen Zazà und Cascart. Gelungen. — Gelungen, wenn auch nicht einsichtig ist, warum die Beschriftungen eines im Herzen Frankreichs spielenden Stückes in italienischer Sprache zu lesen sind. Müßte über der Tür zur Bühne nicht »silence« stehen?
Egal. Denn Christof Loy verzichtet diesmal auf nackte Baritone. Wohltuend. Loy findet einprägsame Bilder. Wie immer überfordert er seine Sänger im Schauspiel, anstatt ihnen Muße für das Spiel mit der Stimme zuzugestehen. Dennoch: Dank Leoncavallos Musik verzaubert dieser Abend, berührt. Und läßt uns Zuschauer — endlich einmal! — mitfühlen, anstatt uns, wie sonst üblich, zu Beobachtern zu degradieren.
Wie schön.
Der ORF sendet eine Aufzeichnung dieser Produktion am 8. November 2020 im Fernsehprogramm ORF III.